Musikfest Berlin 2011: Daniel Barenboim Staatskapelle Berlin Maurizio Pollini

Am Himmel rote Lachsstreifen und blaue Soße. Der Fernsehturm hängt zwischen Jägerstraße und Französischer Straße und scheint höher als sonst. Langsam ist man froh, dass das Musikfest zu Ende geht. Es war anstrengend. Pollini ist da, und das Berliner Wetter strengt sich weiterhin an, so schön zu sein, wie man das selten von ihm kennt. Die Sonne scheint von der Spree bis an die Panke, ja sogar von der Pregnitz bis an die Oder und bis weit nach Polen und Neukölln hinein.

Ist das Pollini, der nach der Pause zwischen zwei jung gebliebenen schwarzhaarigen Damen im ersten Rang sitzt? Blauer Anzug, rote Krawatte? Ist er es? Ist er es nicht? Kurt Sanderling starb. Ein Porträt mit Trauerschleife steht links vorne auf einer Staffelei. Barenboim bittet um eine Schweigeminute. Barenboim lässt das Genitiv-S Kurt Sanderlings unter den Tisch fallen. Möge Barenboims S mit Sanderling ruhen.

Ach, Maurizio Pollini… Der Meister. Pollini spielte Nono. Er spielte Offerte onde serene. Mozart spielt er ohne Brille, Nono mit.

Ach, Pollini… Als wählerischer, ungeduldiger, versnobter und hoffnungslos verzogener Berliner kann man Pollini dieses Jahr 1,2,3,4,5,6,7 Mal hören, wenn ich richtig gezählt habe. Ja genau, drei Mal mit Abbado, 2 Mal Solo, 2 Mal mit Barenboim, Darbietungen im privaten Kreis nicht gezählt. Im Frühjahr 2010 schon hüpfte Pollinis Boulez-Sonate leichthin über Pollinis Chopin. Heute hüpfte Nonos Offerte onde serene höher als Pollinis Mozart. Nono suggeriert in diesem Stück die Linie Donatellos, die Luft Canalettos und den Klang von Nie Gehörtem. Im Konzerthaus sitzt man ja besonders häufig zwischen berlinernden Damen und Herren, was in der Philharmonie  eher selten vorkommt. In der Philharmonie berlinert nicht mal der Klo-Mann. Kaum hatte Pollini mit Nono angefangen, hörte ich ein leises, aber deutliches „Och je, wat’n dat? Und dat jeht jetzt die janze Zeit so?“ Und während der Liszt-Sinfonie hörte ich hinter mir, als die Staatskapelle das Anfangs-Unisono hinflatschte, ein anerkennendes: „Ouhh, dat hat wat“.

Barenboim mit kontrollierter Rechter und ruhender Linker - so hätte das auch Richard Strauss gefallen // Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de

Wolfgang Amadeus Mozart, Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur KV 488. Da sitzt die Staatskapelle Berlin. Gibt es einen neuen Konzertmeister? Wer ist das neben Wolf-Dieter Batzdorf? Ein blonder Schlacks. Die Sitzordnung von links nach rechts wie bei der Sächsischen Staatskapelle am letzten Montag: erste Geigen links, dann Celli, Bratschen, zweite Geigen. Bei Mozart spielt die Staatskapelle echt Barenboimisch: ein geniales, supergeniales Einsetzen des Orchesters im zweiten Satz. Stockendes Strömen, behutsamstes Aussprechen des Langsamen, Piano-Intensität, man fühlte, wie es ist, wenn der Fluss der Zeit die Konsistenz von Honig annimmt (jenes Honigs aus Ossip Mandelstamms Provenienz, der von Persephones Bienen gemacht ist). Etwas weniger intensiv aber immer noch betörend war die Wiederkehr der Stelle nach dem Mittelteil. Klar, die Philharmoniker kochen unter Rattle delikatere Süppchen. Andersherum erwartet man von den Phillies aber auch nicht die verschwörerische Kompaktheit, die die Staatskapelle bietet. Jedem das Seine.

Maurizio Pollini reckt den Kopf in Richtung Orchester, wenn er pausiert und der Staatskapelle zuhört. Unter Abbado fand ich Pollini etwas allgemein im Ausdruck (Mai, Philharmonie, Phillies). Aber die Riesentüte der Philharmonie ist bekanntermaßen ein richtiggehendes Bermudadreieck für Mozartklavierkonzerte. Im intimeren Konzertsaal, zumal unter Barenboims Patsche (reizbare Lässigkeit, Temperament eines Gauchos), spielt Pollini befreit, sprudelnd, um nichts sich kümmernd, fernab der unbekümmerten Biederkeit eines Emanuel Ax (Mai, Philharmonie). Pollinis Klang ist präzise, aber fantasievoll, flüssig, agil, ohne zu hetzen, unergründlich, ohne jeden Anflug von markierter Tiefe. Vollkommen ungezwungene Akzentsetzungen, transparentestes Rubato.

Barenboim wird ja einfach nicht rundlicher, weder oben noch unten. Während sich Rattle in den letzten fünf Jahren ein kleines Embonpoint erarbeitete, präsentiert Barenboim die ewiggleiche stämmige, dezente Kompaktheit.

Die Dante-Symphonie ist… man fühlt sich zeitweise wie in einem Tornado aus Orchesterinstrumenten – hin und her geworfen zwischen Fliegendem Holländer (Tremolo-Heuler), Tristan (ekstatische Rezitative) und Lohengrin (Streicher-Konfettiregen). Doch alles ist Liszt. Die schwärmerischen Kantilenen sind Liszt, wie nur die h-Moll-Sonate Liszt ist. Nur Langweiler finden Liszt langweilig.

Der große Saal des Konzerthauses überrascht immer wieder durch einen DDR-Stil in Reinformat. Die DDR zeigt sich überall, in den ungraziösen Statuen, in den Büsten der Komponisten, die einen großartigen provinziellen Kitsch zeigen, in den falsch glänzenden Wänden, in den eifrigen Tischlerarbeiten an Türen und Geländern und im freudig falsch glänzenden Klassizismus.

Kritik Maurizio Pollini Mozart: eines seiner besten Konzerte