Schlagwörter

Saison zu Ende, Stress vorbei. Einmal geht’s noch in die Staatsoper, um Hosokawas Matzukaze hören, und eventuell Henzes Phaedra. Was waren die besten Abende? Spontan sage ich Mahler Dritte (Simon Rattle), Teile aus Mahler Fünfte und Mahler Sechste (Rattle), Schostakowitsch Achte (Nelsons) und Dvorak Violinkonzert (Rattle, Anne-Sophie Mutter) sowie Mahler Zehnte (Abbado). Und die Programme? Ein programmatisches Meisterstück waren die Abende, die kleine Vokalstücke, von Hugo Wolf und Brahms sowie von Schönberg bzw. Purcell, brachten. Rattle dirigierte die Stücke jeweils vor Mahlers Giganto-Schinken. Der Purcell war ein Traum, die Attacca-Ankoppelung von Schönbergs Überlebenden aus Warschau an die Mahler-Zweite ein ergreifendes Erlebnis.

Hier die Kurzkritik

Das ergreifendste Konzert: Simon Rattle dirigiert Mahlers 3.
Der beste Jung-Dirigent: Andris Nelsons mit Schostakowitschs 8.
Bester Solist: Anne-Sophie Mutter (Dvorak), dann mit kleinem Abstand Gidon Kremer (Alban Berg)
Habe ich schon packender gehört: Maurizio Pollini (Mozart, Abbado)
Das snobistischste Konzert: Thielemanns Strauss-Abend mit Liedern, Arabella-Spitzen und die an Nazi-Mief leidende Festmusik
Dit hat mir jar nicht jefallen: Mahlers trippelnde 4. und Strawinskys magerer Apollon (Rattle)
Enttäuschung: das irgendwie seelenlose Gastkonzert des Concertgebouworkest Amsterdam aus Anlass des Beatrix-Besuchs (Jansen & Jansons)
Da geht einem das Herz auf: Tschaikowskys 6. und Brahms‘ 4. mit der Staatskapelle (Barenboim)
Mein absoluter Lieblingsorchestersolist der Saison: Stefan Schweigert (Fagott, Schostakowitsch! Mahler!! Mozart!!)
Der nutzloseste, uninteressanteste, freudloseste Klavierabend: Sokolov
Hmm, soso, jaja: Baiba Skride
Stagnation auf hohem Niveau: Christian Thielemann, der mit den Wienern nach Berlin kam.
Entzückendstes Konzert: Abend im Kammermusiksaal mit Orchesterakademie und Mitgliedern der Phillies unter Leitung Rattles, unter anderem mit Strauss‘ Metamorphosen und Preziosen von Strawinsky.
Der überzeugendste Donnerer: Arcadi Volodos (Tschaikowsky)
Etwas zu hysterisch: Janine Jansen
Der beste Schlussakkord: Brahms 4. mit der Staatskapelle unter Barenboim
Der Dirigentenschocker der Saison: Andris Nelsons stolpert rücklings vom Podest

Eigentlich war ich in dieser Saison nur bei Rattle, der pausenlos Gustav Mahler dirigierte, und hörte quasi im Vorbeigehen noch Nelsons, Thielemann und zwei Mal Claudio Abbado die Berliner Philharmoniker dirigieren. Mehr ging nicht. Mahlersaison heißt schließlich Mahlersaison, und das heißt nichts anderes als eine Saison der 12.000-Takter, und, wie Sie wissen, ist man nach zwei Mal Mahler Fünfte hintereinander so platt, dass man einfachste Techniken der Alltagsbewältigung erst mühsam wieder erlernen muss („Kannst du mir die Butter geben?“ – „Was?“ – „Die Butter“ – „Die Butter?“) und sich schon vorkommt wie Tristan auf Kareol („Wo war ich?“ – „Wo du bist? In Frieden, sicher und frei! – „Wo bin ich? “ – „Kennst du die Burg der Väter nicht? “ – „Meiner Väter?“ etc.). Kurzum, Mahlersaisons sind gefährlich.

Auch unter einem anderen Aspekt. Man verliert das Gefühl für gekonnte Knappheit. Eine Schumannsinfonie klingt plötzlich wie eine 0-8-15-Coda aus einer x-beliebigen Mahlersinfonie und man findet es schwer zu begreifen, dass eine Beethovensinfonie etwas anderes sein soll als die Orchesterfassung eines klanglich recht dürren Streichquartetts. Schwamm drüber.

Betonscheitel Thielemann dirigierte gut, nämlich Strauss. Ein oder zwei Stückerl, die der Thielemann aufs Programm setzte, stanken a bisserl nach Nazi-Musi, besonders die Festmusik. Nelsons dirigierte ausgezeichnet (die Achte von Schostakowitsch), Abbado dirigierte Mozart sehr luzide, aber nicht so schlechterdings überwältigend wie den Bach vor vier oder fünf Jahren, und Bergs Lulumusik doch weniger eindringlich wie Rattle Anno 2009. Das Lied von der Erde zählt nicht zu meinen Lieblingsstücken – zu Abbados übrigens gleichfalls nicht – und so verschaffte mir diese Jugendstil-Epopöe (Abbado, Jonas Kaufmann, Anne Sofie von Otter) als andere als die stärksten Eindrücke.

Zu den Solisten: Anne-Sophie Mutter (mit dem Philharmonikern) und Gidon Kremer (mit der Staatskapelle) wurden ihrem Ruf gerecht, Anne-Sophie Mutter womöglich noch ein bisschen besser als Kremer. Mozartklavierkonzerte mögen sehr schwer sehr gut zu spielen sein, sie sind jedoch auch für den Zuhörer mitunter wie ein Buch mit sieben Siegeln, zumindest wenn es um die sichere Beurteilung der Leistung sowohl des Dirigenten wie des Solisten geht. Kurz und gut: Maurizio Pollini zeigte bei Mozart unter Abbado unauffällige, unhörbare, nicht ganz zufriedenstellende Perfektion. Maurizio Pollini war im Mai innerhalb von fünf Tagen an vier Abenden zu hören. An seinem Chopin konnten sich empfindliche ästhetische Nasen durchaus einen Schnupfen holen. Baiba Skride geigte ordentlich (Berg), Christine Schäfer ließ ihre zärtlichen Lungen arbeiten (Mahler 4.), Magdalena Kozena (Mahler 2.) und Anna Prohaska (Mozart) berührten, Anne Sofie von Otter (Mahler) und Hanna Schwarz (Strauss) zeigten untrügliches Gespür für den gesungenen Text. Arcadi Volodos macht mit Tschaikowsky (b-Moll-Konzert) so gut wie wunschlos glücklich. Der Beginn der Reprise des ersten Satzes war haarsträubend gut.

Murray Perahia servierte Noblesse, Thomas Hampson untrügliche Dezenz, Renée Fleming umgab eine etwas eine ältliche Aura. Anna Prohaska sang unter Abbado kühl geschliffenen, kalkuliert sensibilisierten Mozart. Mit Jonas Kaufmann, besser gesagt mit Kaufmanns röhrendem, irgendwie Charme-losen Tenor, werde ich auch nach mehrmaligem Hören nicht recht warm.

Und jetzt zu Scheitel, Charme und Haartolle, will sagen der Sektion Mode & Klatsch dieser Seiten. Andris Nelsons gewann sich die Herzen des Berliner Publikums dadurch, dass er vom Podest stolperte, als er Baiba Skride applaudierte. Thielemann kann ich immer noch kaum zuschauen beim Dirigieren. Sein Dirigat der Bruckner-Achten vor vier Jahren war für mich sozusagen ein optischer Schock. Die Heftigkeit, mit der ich auf Thielemanns Stil reagiere, hat sich durch seine Beethoven-Abende mit den Wiener Philharmonikern etwas abgeschliffen, ist jedoch noch keineswegs verschwunden. Simon Rattle zuzusehen ist auch kein leichtes Brot, aber die Qualität der Musik ist bei ihm in der Regel so hochkarätig, dass ich lieber auf die Musiker schaue oder andächtig eine Saallampe ins Visier nehme oder abwesend am linken Ohr von Frau Shimizu hängenbleibe, was sich besonders beim Dvorakkonzert als genialer Schachzug erwiesen hat.