Berliner Philharmoniker – Simon Rattle: Lindberg Seht die Sonne Mahler Sinfonie Nr. 9
Kritik Berliner Philharmoniker & Konzertbericht. Simon Rattle dirigierte drei Mal vor ausverkauftem Haus Mahlers Erzstück. Es war das Beste von Rattle bislang in Berlin Gehörte. Das waren die Leitlinien: ins Extreme gedrehte Genauigkeit. Keine Trennung zwischen thematischer Wichtigkeit und der Ausführung jeder noch so unthematischen Aktion. Üppigste Konzentration. Einebnung der Tradition durch Härte der Haltung und Folgerichtigkeit der Musik. Etwas lyrischer ausgedrückt: Rattle verließ sich nicht auf die Schlagwörter der Mahlerinterpreta- und rezeption („Komm in den totgesagten Park…“). Rattles Mahler klingt aufregend neu, nicht frisch, doch ohrenverdrehend neu. In der warmleuchtenden Philharmonie zogen keine Mahlererinnerungen durch die Luft.
Es war stattdessen ein Eindruck da wie von diktatorischem Erkennen. Augenlider abschneiden und nichts anderes tun können als auf die Neunte Sinfonie zu starren. Die Glut kommt nicht vom Gefühl, sondern von Klarheit, von Direktheit, von Härte.
Himmelweit über Zubin Mehtas Betulichkeit, Ratlosigkeit, Gedankenlosigkeit bei der Mahler-Siebten. Rattles Mahlerinterpretation soll man nicht mögen. Rattle sagt: zuhören. Er befiehlt: zuhören. Er oktroiert: zuhören. Es ist eine Neunte Symphonie, die man nicht vergisst, wegen der Dichte, wegen dieser abartigen Polyphonie der Tutti (hatte was von fraktalem Dauerexplodieren), wegen der Leistung des Orchesters. Barenboim gelang das Rondo im April 2007 schlüssiger, damals mit dem Berliner Staatsopernorchester. Rattles Rondo war atemloser, gehirngemäßer, vollkommen enttschechowisiert. Rattle schlägt strudelnde Schneisen durch Mahler, zerfetzt einen Mahler-Klassizismus, der für gewöhnlich zitiert, wo reine Musik notwendig ist. Das Ende des Rondos war von unübersteigbarer Schlagkraft. Der Beginn des ersten Satzes von einer Sauberkeit des Denkens, von einer Souveränität der Gliederung, die genauso verwirrte wie Maßstäbe setzte. Im Adagio die Violinen und Bratschen immer mal wieder recht dick, dafür die Gegenbewegungen der tiefen Streicher Atem nehmend. Schmerzliches, stechend intensives Verströmen. Ansonsten Hornsoli traumhaft, die Holzbläser außer Rand und Band, im unbestechlichen Verbund noch solistisch stechend.
Das Beste: Der harte, blendende Glanz der polyphonen Aktionen, den die Berliner Philharmoniker bringen. Die Konzentration (sprich: Verdichtung). Die Nivellierung von Phrasenhöhepunkt und jedwedem anderen Ton innerhalb der Aufstiege und Abstiege. Ein Musik ohne Ausruhen. Ein Gefühl einer physikalischen Dichte der Musik. Ein von Inhalten geleerter Mahler? (Vielleicht wollte Rattle das gar nicht, doch der Eindruck war so.) (Subjektive) Inhalte, wozu (subjektive) Inhalte? Schönberg 1913 zur Mahler-Neunten: „In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt.“ Rattle macht das.
Magnus Lindbergs Opener – der Titel „Seht die Sonne“ – ist ein solides, etwas langes, sehr sonniges, aber wenig durchtriebenes Orchesterstück, für das man je öfter man es hört, desto mehr Sympathien entwickelt, weil es das Warten auf Mahler auf äußerst angenehme Weise verkürzt. Beim dritten Mal mochte man Lindbergs Stück richtiggehend.
Simon Rattle dirigiert mit der schwebend ausgestreckten, etwas hängenden Linken, die die Linien umschreibt, und mit der Rechten, die den Taktstock wie eine Verlängerung des Armes, nicht als ein selbständiges Instrument, hält.
Konzertkritik: Als Ganzes ein ähnliches Glücksgefühl wie nach Barenboims Parsifalaufführungen des ersten Halbjahres 2007. Absoluter Höhepunkt, gewiss für die nächsten Monate, mag sein auch für die nächsten Jahre.