Was wäre das Leben ohne Verdis La Traviata?

Im Herbst 2025 heißt die Violetta an der Lindenoper Marina Rebeka. Die Lettin sang an der Staatsoper schon Troubadour-Leonora und Aida. Beide Male gefiel Rebeka mit großer, gut kontrollierter Stimme und stetigem, vollem Klang. Das ist heute Abend auch alles da. Aber ihre Traviata überrascht vor allem durch ein Singen von großem Ernst. Immer dabei ist ein Hauch (baltischer) Kühle. Sie singt eine Traviata mit Stil. Den Klang reichert Rebeka gerne mit einer Prise Aida-Majestät an (die lyrisch-dramatischen Expansionen im 2.-Akt-Finale, Prendi: quest’è l’immagine im 3.). Das ist aufregend. Das Erstaunliche ist, dass sie eines nicht hat: Sentimentalität. Der Ausruf im 3. Akt, È tardi, es ist zu spät, bleibt komplett ohne Selbstmitleid. Rebeka vermeidet sorgfältig Schluchzer. Auch das ist aufregend. La Traviata als Tragödin.

Sicher gibt es auch bei Rebeka Kritik. In der ersten Cabaletta im ersten Akt sind die Spitzen zu metallisch-laut. Und eine geschliffen klare Diktion ist nicht ihr Ding. Aber die Verzierungen in der Arie werden sorgfältig gesungen, eher instrumental, nicht als funkelnde Perlenkette.

Gut auch der Alfredo von Stefan Pop. Der mischt nämlich Heißsporn und Schüchternheit, hat Herz und Präsenz, bringt Charme und Bewegung auf die Bühne. Pop ist ein bisschen Nemorino (Liebestrank), ein bisschen Don Carlo. Keine ganz große Stimme, aber eine, die bei jedem Ton Brust- und Kopfstimme auf attraktive Weise neu mischt. Doch geht die tolle Lebendigkeit des Vortrags auch auf Kosten der Linie. Als Germont beweist Alexej Markow stählerne Klasse, freilich ohne die emotionale Zugewandheit von Daza, die Noblesse von Petean oder das Drängen von Enkhbat. Was Markow aber durch ein straffes, schnörkelloses Legato plus gediegene Autorität wettmacht.

OK die Flora Bervoix der Sandra Laagus, bestens der Marquis von Arttu Kataja. Beeindruckend energisch wie immer die Annina von Adriane Queiroz. Gut der Gastone von Andrés Moreno García, ebenso der Douphol Irakli Pkhaladze. OK der Grenvil von Friedrich Hamel.

Das Dirigat Karel Mark Chichon ist durchgehend mau. Die Vorspiele zu 1. und 3. Akt: sentimental und korinthenkackerisch. Der Chor ist besser. Toller Schlusswirbel der Pauke.