Das Berliner Neue-Musik-Festival Ultraschall geht ins 26. Jahr, heuer sind DSO, RSB, Trio Catch, MAM, Ensemble Apparat dabei. Groß gefeiert wird nicht, nur eben anregend weitergemacht wie bisher. Was bringt Ultraschall 2024? Drei Orchesterkonzerte, zwei Liedrecitals, Computermusik, zwei Porträtkonzerte, zwei Veranstaltungen mit jeweils konzertfüllendem Einzelwerk. Neue Saison, neues Glück.

DSO: Filonenko, Šenk, Herrmann

Das DSO eröffnet das Festival Ultraschall. Da ist Memory Code (2021, 12′) der Ukrainerin Alexandra Filonenko. Formal folgt Memory Code dem Wechsel von nervöser Verdichtung und starker Spannungslösung. Inhaltlich wird der Brückenschlag zwischen individueller Erinnerung und Objektivität gesucht, die suggestive Titelwahl deutet es an. Was an dem Gehörten persönliche Erinnerung ist, teilt sich dem Hörer indes nicht mit – anders als die Qualität der Komposition. Ob Kurz-Einspieler von Nazi-Gesangsgut einen Zuwachs an Wert bedeuten, steht dahin.

Das Trompetenkonzert Dialogues and Circles der slowenischen Komponistin Nina Šenk wirkt dünn. Man darf die deutsche EA (2010, 23′, Solist ist Simon Höfele) als routinierten Mainstream bezeichnen. Wer liest heute noch zeitgenössische Lyrik? In Zukunft ist zu antworten: der Komponist Arnulf Herrmann. So bezieht sich der letzte Abschnitt von Tour de Trance auf das titelgebende Gedicht von Monika Rinck. Unwirsche Gestik, symphonische Ballung sind ernstgemeinte Werk-Charakteristika, die Bezugnahme auf Beethovens bekannte c-Moll-Formel aus op. 67 ist offenbar. Der Eindruck schwankt zwischen faszinierend und unfruchtbar. Anja Petersen interpretiert die Gedichtworte: genau die Intervallesprünge, verständlich die Worte. Es leitet Lin Liao.

RSB: Retinsky, Seyedi, Bianchi, Fallah

Das zweite Orchesterkonzert bestreitet das RSB unter Wladimir Jurowski. C-Dur des Ukrainers Alexej Retinsky (2020, 13′) tickt ähnlich wie Tour de Trance. Dennoch ist C-Dur eher keine marktübliche Neue-Musik-Ware. Neben markigen Unisono-Gesten blühen schwer zu fassende Zwischentöne. Streicherbänder besitzen die Kompaktheit von Schieferschichten. Gut anzuhören – mit Stirnrunzeln. Die in Teheran geborene Elnaz Seyedi entwickelt in a mark of our breath (2021) im abgezirkelten 6-Minuten-Rahmen einer WDR-Auftragsarbeit Außen- und Innenansichten des Wendlands. Unbeantwortet bleibt die Frage, warum es die tönende Vedute schlussendlich zu hören gibt. Für das Stück der Russin Olga Rayeva mit Roman Yusipey hätte ich vor dem 24. Februar 22 ein Ohr gehabt. Exordium (2016, 11′) von Oscar Bianchi ist das am besten durchgestaltete Stück des Abends, scharf die Physiognomik, der Puls prozessual bis ins letzte Saitenkratzen. Allerdings killt hier die maximale Kontrolle des Komponisten jedes zarte Pflänzchen Inspiration. Mehr Geheimnis wahrt Traces of a Burning Mass (2022, 13′) der Iranerin Farzia Fallah, was am Passivismus schwebender, meist heller Bläserklänge liegt, aber ebenso an gedämpften Impulsen aus Streicher- und Schlagwerkattacken. Beides weiß Fallah in feiner Substanzgemeinschaft zu verschränken. Trotz politischer Implikation wahrt das Stück so seine Autonomie. Aber war das schon der Urknall von Ultraschall 2024, der Ultraknall sozusagen?

Heimathafen: Trio Catch

Flankieren die Orchesterkonzerte als gewichtige Statements das Festival, so schlägt das Herz in den Kammer-, Solo- und Ensemblekonzerten dazwischen. Das Programm, das das Trio Catch im Heimathafen spielt, überzeugt allerdings nur halb. Farzia Fallah lauscht in Spaces of Deep Silence Venedig-Erlebnissen nach, ohne ein anderes Feuer als das der kultivierten Wohlstandstouristin zu entfachen. Avance von Adriana Hölszky geriert sich klüger und weniger redselig (1997, 14′). Knappe Formulierungen sind immer ein Vorteil, vor allem wenn sie mit derart konstruktivem Farbsinn einhergehen. Von Julien Jamet kommt nuit, ein klarinettenwarmes, Cello-weiches Nachtstück, lauschig und harmlos, dem man widerwillig fasziniert das Ohr leiht. Fenster der Ungarin Judit Varga verlangt gar nicht erst nach mehr. Die milde, allzu milde Ansammlung scharf gegeneinander abgesetzter Mikrostücke ist tönende Hörfrucht des Lockdowns Ende 2020. Der Wiener Matthias Kranebitter immerhin illustriert in whirl & pendulum vermutlich den Slogan „lebe wild und gefährlich“, ohne sich im Phrasensalat zu verheddern. Der zweite Teil ist ruhiger.

Lieder: Suns Neugierde, Jean Barraqués clarté

Zwei Liedprogramme rücken unerwarteterweise die vokale Kurzform in den Mittelpunkt der zeitgenössischmusikalischen Neugierde. Im Recital von Sarah Maria Sun -Thema: Familie und Kinder – reicht die Spanne der Werke von der irrwitzigen Monadologie XXXVIII (nach Mozart) von Bernhard Lang über Georg Nussbaumers liebenswürdiges 19.-Jahrhundert-Kaleidoskop Schubert singt Wagner – Das saugende Herz bis zu Fabio Nieders slowakisch durchschmeckerten Parlando (UA). Nur Miroslav Srnkas 13 Lieder nach Postkarten von Jurek Becker (2007) krepieren am allzu idyllischen Biedermeiersinn der Texte Beckers. Düstere Saiten schlagen Marco Di Baris alptraumhaftes (Un-)heavenly Lullaby (1997) und Andrea Lorenzo Scartazzinis So sieht’s aus nach Nora Gomringer an. Thierry Tidrows Die alten, bösen Lieder (2016) reflektiert erneut romantisches Weltgefühl.

Das zweite Lied-Recital macht mit dem Frühwerk von Jean Barraqué bekannt. Komponiert in den Jahren 1948 bis 1950, drängen sich Barraqués mélodies als willkommene Repertoire-Erweiterung geradezu auf. Die neun Mélodies de jeunesse (Katrien Baerts Sopran) bewegen sich schillernd zwischen französischer clarté und Präzision der Wiener Schule. Konstruktiv hinreißend irrsinnig geraten Trois Mélodies u.a. nach Baudelaire und Rimbaud (Nina Tarandek Mezzosopran). Aufregend auch die Monologszene La Nostalgie d’Arabella (1949), wieder für Mezzosopran. Beide Recitals zählen zu den reizvollsten Konzerten von Ultraschall Berlin 2024.

Mehr Zahnbürste, weniger Welpe: MAM, Ensemble Apparat

Weiter geht es mit MAM, sprich Manufaktur für aktuelle Musik, die im Radialsystem spielen. Die Griechin Georgia Koumará ist mit Bunk vertreten (2022, 16‘), vermutlich einem der lustigsten Werke zeitgenössischer Musik. Bunk ist nonchalant, Mixer-generiert, überdreht, knuddelig wie ein fiepsender Welpe, subtil. Kein Meisterwerk, weil teil-redundant, aber unterhaltsam. In seiner introvertierten, linear erzählerischen Haltung, für die Langhalslaute Tar (Milad Mohammadi) und Ensemble geschrieben, wirkt Dârvag des Iraners Karen Keyhani wie ein Fremdkörper im Festivalprogramm (2024, 15‘). Mehr Biss haben die 8 Easy Pieces für Elektrozahnbürsten (2023, 13‘) des Hamburgers Michael Maierhof, eine knarzende, ins Präzise getriebene Uraufführung, die insbesondere die Tugend der Unvorhersehbarkeit hoch hält. Heroisch und frugal. Wie überhaupt das MAM-Konzert – Leitung Susanne Blumenthal – zu den packendsten Festivalfrüchtchen zählt. Auch wegen des verlässlich unberechenbaren Stücks skotom der Berlinerin Sarah Nemtsov (2019, 13′). Bedeutet der Stücktitel Sichtfelddefekt, so verleitet skotom bei spannungsfluktuierendem Puls zu wohliger Orientierungslosigkeit, und das von der ersten Aktion an. Was wollen Festivalfreaks mehr?

Zwei Spätveranstaltungen widmen sich jeweils dem Langwerk eines Komponisten. Der im Verhältnis zur Stücklänge erwartbar geringe ästhetische Ertrag stellt sich – Überraschung – auch dieses Jahr ein, zuerst bei PS: and the trees will ask the wind von Elnaz Seyedi (2020) und dann bei der energiegeladenen Phantasmagorie Adolescência des Brasilianers Ricardo Eizirik (2024).

Dem eigentümlichen Timbre eines kleinbesetzten Blechbläserensembles spürt das Ensemble Apparat im Sonntagnachmittagskonzert nach. Zuvörderst mit Enno Poppes wunderbarem Zug für sieben Bläser (2008, 13′), das hat lockere Textur, groovt kantig, und das Ironie-nah und nie um rauen Charme verlegen. Joanna Bailies night scenes i & ii für sieben Blechbläser (2023, 14‘, Uraufführung) hingegen lösen sich kaum von einer überraschungslosen Erzählhaltung. Noch schwächer ist das auf einem neuartigen, unübersichtlichen, aus sieben Schalltrichtern bestehenden Blechblasinstrument und von mehreren Musikern gleichzeitig zu spielende Werk Multiplayer Instrument von Ragnhild May (2023, 15‘, Foto hier), einer zähen, unnötigen Uraufführung. Energischeren Hörreiz bietet dagegen Blechbläserquintett (2003/04, 25‘) in der Besetzung Trompete, Horn, Tenor-Wagnertuba, Posaune, Kontrabasstuba des 1955 geborenen Kubaners Jorge E. López. Als mutig erweist sich vor allem das Durcheinander der Blechinstrumente mit den ballenden Knetungen und Quetschungen des lebhaften Ensembleklangs. Die Würze liefert das düstere bis rätselhafte Zuspiel.

DSO: Streich irgendwie, Chin mündet findig, Andre mit Firnis

Das Abschlusskonzert wird vom Deutschen Symphonie-Orchester bestritten. Dass der Schwenk hin zu den arrivierten Akteuren des Neue-Musik-Betriebs nicht automatisch ein Schwenk weg von Minusqualität bedeutet, zeigen die ersten beiden Werke. Zuerst ist da Mantel von Lisa Streich. Die Schwedin listet auf ihrer Seite über ein Dutzend aktueller europäischer Aufführungen des Stücks. Allerdings verliert sich Mantel, gesetzt für Streichorchester und zwei Schlagzeuger (2018, 20‘), irgendwie in sich selbst. Das tönt konzentriert, fragil, durchsichtig. Aber halt auch zu konzentriert, zu fragil, zu durchsichtig. Von Unsuk Chin, jüngst erst bei Staatskapelle und DSO aufgeführt, erklingt das Klarinettenkonzert von 2014 (25‘). Liebevoll pflegt das Ultraschall-Festival ja das Genre des konservativen zeitgenössischen Konzerts, letztes Jahr hörte man Höllers außerordentliches Reifewerk, das Doppelkonzert für Cello und Klavier. Auch Chin bietet jetzt dem Hörer die traditionelle Dreisätzigkeit, die Ecksätze prägen Virtuosität und Spielepisoden. Man hört (quirlig: Boglárka Pecze) abgeklärten, feinfühligen Akademismus, der in eine Art findigen Mainstream mündet. Neue Musik neu gedacht? Nein. Den Schlusspunkt des Festivals setzt ein aktuelles Werk von Mark Andre. Im Entschwinden (2022, 11‘) ordnet Musikschichten wie Firnisse übereinander. Pulsierende Prozesse scheinen hier eingelagert in eine größere Zeit. Suggestiver Minimalismus. Die Details erlangen größte Klarheit. Ein guter Abschluss.

Zu bemerken bleibt: Das Berliner Festival bleibt auch 2024 unprätentiös, fast nüchtern um die Musik bemüht, wohltuend unaufgeregt, nicht unpolitisch, doch das Polititsche findet allein in den Stücken statt. Auf ein Neues 2025.