Die berühmteste Näherin der Operngeschichte singt die Moldawierin Irina Lungu. Lungu macht das poetisch, absolut sorgfältig, vom Temperament her üppig verhalten, hören Sie Ma quando vien lo sgelo aus der Arie im ersten Akt. Bei Donde lieta uscì wird man süchtig nach ihrer Mittelstimme. Sie kann flutende Piani in höchster Lage, hat oben aber Vibrato. Lungu: nicht so textverständlich, aber souveräner als Buratto, selbstbewusster, weniger sentimental als Pérez, weniger theatralisch als Yoncheva (am selben Ort vor drei Wochen).

Als lebenslustige Musetta gefällt Publikumsliebling Victoria Randem. Samuils Quando m’en vo klang üppiger, Queiroz kampflustiger, Novak souveräner. Trotzdem macht das bei Randem viel Spaß. Als Rodolfo zeigt sich Freddie De Tommaso von herrlicher Stimme und Linienführung und müheloser Höhe. Was die Stimmwirkung betrifft, scheint De Tommaso kein Herzensdieb: der Tenor klingt lyrisch leicht unterkühlt – aber nur in der Arie. Der Brite hat den Hauch standardisierter heroischer Männlichkeit, der Jonas Kaufmann in dieser Rolle immer gut stand. Unwiderstehlich De Tommasos O soave fanciulla.

Hervorragend der Marcello von George Petean, dem es zum Vergnügen des Publikums erst beim siebten Mal gelingt, die Weintraube mit dem Mund aufzufangen. Während Gyula Orendt den Schaunard hampelig spielt, aber dank Orendt hört man heute bei der sonst gern überhörten Partie genau hin. Die Abschiedsarie an den Mantel, deren Komik ihre tonnenschwere Trauer nicht aufwiegen kann, singt Grigory Schkarupa. Mit ausdrucksvoller Schwärze, eben charaktervoll und nicht sentimental. Das heute ist sehr gut.

Strahlend lyrisch der Parpignol von Gonzalo Quinchahual. Hörenswert auch die Doppelrolle Vermieter Benoît/Sugardaddy Alcindoro des Olaf Bär, zu dessen Ehren ich Morgen früh Sehnsucht nach der Waldgegend aus Schumanns op 35 hören werde. Massimo Zanetti leitet sinnlich und energisch, für mein Empfinden attraktiver als die anderen Berliner Bohème-Dirigenten. Zanetti hat Sinn für das blühende Ganze, super die unwiderstehlichen, von Volksszenen und Kinderchor begleiteten Ensembles im zweiten Akt. Der Italiener vermittelt heute Abend mit nie trügendem Sinn zwischen lirismo und anekdotischem Charme, zwischen Beziehungszauber der Partitur und ihrem symphonischem Gewicht.

Die veristische Plauderei der Bäuerinnen (gesungen von drei – oder vier? – Chordamen) an der Zollstation: Burro e cacio! Polli ed uova! Butter, Käse. Hühner, Eier. Voi da che parte andate? A San Michele! Wo geht ihr hin? Saint Michel. Ci troverem più tardi? A mezzodì! Sehen wir uns später? Bis um 12.

Eine gut besetzte Bohème ist halt immer schön.