Jules Massenets Hérodiade, die die Deutsche Oper prominent besetzt auf die konzertante Bühne bringt, hat alles: Riesen-Chöre, viel Gefühl, fightende Frauen, verliebte Männer.

Dabei ist Hérodiade, so heißt die titelgebende Mutter Salomes auf Französisch, nicht einfach eine Salome-Oper à la française. Johannes der Täufer wird von einem Tenor und der Tetrarch von einem Bariton gesungen, ganz anders als bei Richard Strauss. Überhaupt wirkt das Werk so grand opéra wir nur irgendwas. Vor allem gibt es üppige Szenerien und Ballette, in denen sich in Jerusalem – man staunt – unter den Babylonierinnen auch Franzosen (gauloises) tummeln. Dazu biblische Exotik, Marktgeschrei, jüdisch antikes Judäa, Massenszenen. In knapp drei Stunden Spielzeit leert sich das ganze Füllhorn der „großen“ französischen Oper.

Dementsprechend facettenreich schillern die Figuren. Tetrarch Herodes ist gewiefter Kalkulateur der Macht, aber eben auch aufrichtig Liebender. Etienne Dupuis brilliert mit hervorragend textverständlicher, fein biegsamer Stimme, freilich ohne die schallende Kraft italienischer Baritone, dafür von noblem Klang und lyrisch tenoraler Höhe.

Massenet Hérodiade Deutsche Oper Berlin Mazzola

Was Charakterfülle angeht, als tragische Figur, ist Hérodiade die vielschichtigste des Librettos. Zudem ist sie als Intrigantin und Politikerin ihrem Mann ebenbürtig. Mezzosopranistin Clémentine Margaine singt die von Rache und Angst getriebene Frau vibrierend vor Affektlust und mit dunkler Mezzo-Energie. Wie rührend andererseits ist Hérodiades Erinnerung an die timides baisers am Tiberufer. Man darf bei Massenet nicht an das mit esoterischem Klunker behangene Psycho-Wrack der Wilde/Strauss’schen Version denken.

Aber irgendwie steht doch Salomé im Zentrum. Die ist hier kein verzogenes Biest, sondern eine sensitive Judäertochter, ein höchst sympathisches Wesen. Nicole Car singt mit blühend jugendlicher Emphase und viel Werther-Charlotte in der Stimme. Und in der Höhe mit vitaler metallischer Schärfe, aber doch bei weitem nicht so französisch ausdrucksfein wie weiland Andréa Guiot oder Régine Crespin.

Nicole Car Deutsche Oper Berlin

Spannend ist an dem Berliner Abend auch, wie Massenet Gattungskonventionen mit vollkommen neuartigen Ausdrucksbereichen – zwischen Pathos, Intimität und Religion – verpatchworkt. Für die Konvention stehen Eingangschöre, Arien, Duette, das Handlungs-sistierende, der Innenschau dienende pezzo concertato. Und neben dem von Verdi wohlbekannten Liebesdreieck Sopran-Tenor-Bariton darf auch das große Finale im zweiten Akt nicht fehlen.

Andererseits meinte schon George Bernhard Shaw 1885 in London über Salomés hinreißende Schwärmerei für den Porpheten (Il est bon, il est doux, Akt 1) „the idea of singing such things about so august a person would shock any Englishwoman, even if the music were Handel’s…“

Als Prophet Jean überzeugt der Tenor Matthew Polenzani, so dynamisch geschmeidig, überzeugend in der Vollhöhe wie auch beim Gebrauch der voie mixte agiert der US-Amerikaner. Polenzanis Wortverständlichkeit ist hervorragend, das Französisch um Längen klarer als bei Car. Ungewöhnlich die Figur des Phanuel (kernig und autoritativ Marko Mimica) als erster Diener seines Staats, Vertrauter des Königs und Hofastrologe, der den Tod Salomes vorhersagt. Jugendlich selbstbewusst singt Dean Murphy den Vitellius. Als Hoherpriester überzeugt Kyle Miller (Accourez tous in Akt 3). Klasse die Babylonierin der Sua Jo (attraktiv klangfarbig Que ce philtre amoureux, Anfang Akt 2). Die Stimme aus dem israelischen Tempel kommt von Thomas Cilluffo.

Sehr gut das Orchester der Deutschen Oper unter Enrique Mazzola, beider Leistung lässt wenig zu wünschen übrig. Sehr gut der Chor, ob als sopranöse Palastsklavinnen, rebellische Judäer oder pompös selbstbewusste Römer.

Massenets Hérodiade ist alles andere als eine Ausgrabung, das Werk wird gespielt und ist entsprechend auf Tronträgern dokumentiert. Dennoch stellt die konzertante Aufführung in der Deutschen Oper Berlin eine willkommene Auflockerung des hauptstädtischen Spielplans dar, dürften doch weder Massenet noch die französische Oper der belle époque an Spree und Panke als überrepräsentiert gelten. Überdies sind zwei Hauptrollen mit Dupuis und Margaine originalsprachlich besetzt (jipieeh), und vom idiomatischen Standpunkt aus kann Polenzani gut mithalten.

Nochmals am Sonntag.