Konzert in der Lindenoper.

Simon Rattle dirigiert Birtwistle und Mahler.

Die bisherige Konzertsaison der Staatskapelle? Barenboim fehlt (Silvester ausgenommen), Thielemann springt nicht ein. Heute aber steht Simon Rattle am Pult, der Widmungsträger des ersten Stücks des 2022 verstorbenen britischen Komponisten Harrison Birtwistle, Donum Simoni MMXVIII. in Form einer auf dreieinhalb Minuten gestreckten Fanfare. Der sehr kurze Epilog gehört der Tuba. Wenn man annimmt, Birtwistle hätte mit Donum Simoni ein Porträt Rattles im Stil der Enigma-Variationen geschrieben, wäre Rattle ein ungeduldiger, extrem rhythmusbessessener Kerl. Man könnte sogar an Elgars G.R.S.-Variation denken, in der geschildert wird, wie eine Bulldogge in den reißenden Fluss Wye stürzt.

Staatskapelle Berlin Simon Rattle Mahler Sinfonie 9

Der Schreiber dieser Sätze hat Mahlers Sinfonie Nr. 9 zuletzt Herbst 2011 gehört, mit den Philharmonikern, unter Simon Rattle.

Nun ist Stück-Überblick à la Google Earth nicht das, was Rattle will. Rattle will, dass wir in die Details kriechen. Man wird schmutzig, kommt ins Schwitzen. Inwieweit Rattle vorhat, irgendwann das Stadium des abgeklärten Altersdirigenten zu erreichen, ist unklar.

Freilich ist nicht alles Gold unter der rautierten Glasfaser-Phosphatkeramik-Rundung im Großen Saal der Staatsoper. Die Musiker spielen nicht auf Durchhörbarkeit. In der heftigen Rondo-Burleske verwischen die Streicherlinien. Bläserfarben haben expressionistischen Schlag. Das beginnende Finale streicht man wuchtig breit, wie einen Orchesterstrom, gegossen in deklamatorischen Gesang. Gut.

Zuerst einmal ist der rasche Geschwindschritt von Satz 1 ein Schock. Ungezügeltes Drängen. Wilde Crescendi. Abbados (allzu) kultivierter Feinsinn ist weit weg.

Der Ländlersatz (der Nr. 2) ist der einzige mit idiotensicher wiedererkennbaren Themen. Das Finale ist irgendwie eine Doppelvariation. Der Kopfsatz hat Sonatenform, aber beim Hören hilft die Vorstellung einer Folge riesenhafter Doppelstrophen besser. Noch besser, man hält sich während der gesamten Sinfonie Nr. 9 an prägnante Solostellen, an die kadenzartige Flötenpassage (Claudia Stein, plus Horn) im Andante. An das Fagott, das im Finale zum zweiten Thema überleitet (Holger Straube). An die markanten Horneinsätze in Andante und Adagio. An die auffahrende Klarinette nach dem Harfen-Vorhang im Rondo.

Rattles Mahler ist expressiv und intensiv. Im Rondo führt unablässige Vielstimmigkeit zu bedrängender Überfülle. Kaum schmettern die Posaunen Choralthemen, trillern schon die Hörner. Das muss man heute nicht mehr Rezeptions-beflissen als ultimative, womöglich den Krieg vorausfühlende Katastrophe hören, sondern, eine Stufe niedriger geht auch, als abgründig himmelhochjauchzende Musik. Die Sinfonie schließt mit dem Adagio, dessen „Des-Dur-Gesang“ (Claudia Maurer Zenk) die Staatskapelle in einen nur scheinbar nicht endenden Rezitativstrom überführt, von dessen drei von Paukentremoli angetriebenen Höhepunkten nur der erste ohne Beckenschlag auskommt.

Ein Konzert, das aufgrund vielseitiger Qualitäten zufriedenstellt. Alle zwölf Jahre die Neunte mit Rattle, das passt.