Tradition verpflichtet. Zum zweiten Mal höre ich die Wittener Tage für neue Kammermusik, meist live, immer online, immer auf WDR3, drei Tage aktuelle Musik. Ich höre sieben von neun Konzerten, das meiste live, kleine Besetzungen, 100% Konzert, 0% Diskurs. Wichtig ist, was aufm Podium passiert. Genau nach meinem Geschmack.
Auffällig oft treffen in den Programmen gegensätzliche Positionen aufeinander. So auch beim frühen Freitagskonzert. Von der Australierin Lisa Illean hört man die meditative Tidenhubträumerei Tiding (= die Gezeiten) für E-Gitarre , eine Elegie in allzu sanften Nachhalltönen (Gitarre Yaron Deutsch). Komplett anders dann der Einfallwinkel von Georges Aperghis‘ Hopse (UA), nämlich siebzehn Minuten ironisch zusammengewürfelte Tongestalten, von des Griechen Meisterhand luftig hingestreut. So entsteht ein Tönekontinuum – immer locker, farbecht, nie laut, immer interessant. Fröhlicher Minimalismus eben. Es spielt das Ensemble Modern unter der Leitung von Elena Schwarz.
Arditti: Öcal, Šenk, Kyburz, Koch
Im Spätkonzert spielt das unverwüstliche Arditti String Quartet vier Uraufführungen. Auch hier prägen scharfe Kontraste das Programm. Der 1992 geborene Mithatcan Öcal stellt in Harman Sokak II prägnante Tanzidiome und barockes Arienpathos nebeneinander. Tönt so moderner Folklorismus? Kurze Abschnitte reihen sich zur größeren Form. Angeregt wurde Harman Sokak II von Istanbuler Graffiti. Die verknappte Gestik vermeidet Genre und Illustration. Der klangmikroskopischen Erkundung von Naturphänomenen widmet sich To see a World in a Grain of Sand der Slowenin Nina Šenk. Es scheint mir das schwächste Stück des Abends und erschöpft sich in ermüdender Konturenlosigkeit. Rätselhafter, was Haltung (und Titel) angeht, gibt sich der Akkordeon-Monolog Sisyphe heureux des Schweizers Hanspeter Kyburz.

Der zielt nämlich auf eine Musik interesselosen Wohlgefallens irgendwo zwischen konzentrierter Rigidität und verspielter Unrast (Akkordeon: Teodoro Anzellotti). Über Sven-Ingo Kochs III. Streichquartett liegt ein sanfter Verschrobenheitsfaktor. Das Stück ist erstens konservativ und zweitens hörenswert. Geduldig nimmt das Quartett sein Material ernst. Es kommen vor: Motivfragmente, Schönbergsche Glissandi, Scherzo-Pizzicati. Glühwürmchengleiche Triller geistern durch das Werk. Dürfte es inzwischen nicht präsenter-präzisere Neue-Musik-Formationen als das Arditti String Quartet geben?
Porträtkonzert: transfixiert mit Djordjević
Die Wittener Würze liegt auch in der Kürze. Die Konzerte sind überwiegend einstündig. Natürlich setzt man auch heuer auf den Wechsel bewährter Konzertformate. Das diesjährige Porträtkonzert ist der Serbin Milica Djordjević gewidmet, Gespräch mit der Komponistin inklusive. Man merkt’s, die Energie der diskutierenden Djordjević kehrt in ihren Stücken wieder. Im Werkpaar transfixed und transfixed‘ zeigt sich, wie skrupulös durchdetailliert Djordjević vorgeht. Wie ein inneres Gewebe mit dramatischer Plastik gefüllt wird. Dass dabei dem Zuhörer zumute wird, als befände er sich in einem Walzwerk und wäre Zeuge irrer Kompressionsvorgänge, dürfte von der Serbin einkalkuliert sein.
Djordjevićs Werk wirkt ja oft technoid und emotional zugleich. Das fabelhafte Ensemble Modern spielt erneut unter Elena Schwarz. Als Gegenpart dient das Solostück würde man denken: Sterne (mislio bi čovek: zvezde, für Akkordeon), dass über akkordisch geballte Stimmüberlagerungen funktioniert und im Prinzip ebenso massiv und komplex texturiert wie die beiden Ensemblestücke, zumal in der Auslegung von Anzellotti.
Catch: alles neu mit Nemtsov, Jolas, Seyedi, Saunders, Poppe
Nicht ganz so kurz, aber ebenso intensiv lässt sich das Konzert des Trio Catch an, das für vier Uraufführungen nach Witten zurückkehrt. Im traditionsreichen Spannungsfeld zwischen Naturschilderung und autonomer Invention siedelt die in Berlin lebende Sarah Nemtsov ihr neues Werk Sparlings Sparrows an und hat dabei nicht nur die mit Strukturleichtigkeit eingefangene Vogelwelt, sondern auch aus dem Ruder laufende Verdichtunsgprozesse im Blick. Die 1926 geborene Betsy Jolas offeriert mit dem betörenden Rounds to catch eine farbenreiche Etüde in äußerster Leichtfüßigkeit. Das Werk verarbeitet amerikanische Kanons und strahlt eine umwerfende Lässigkeit aus.

Es folgt ein Teamwork-Werk, wie es nicht im Buche steht. Enno Poppe und Rebecca Saunders komponieren überkreuz vereint Taste. Saunders vervollständigt ein Geigenstück von Poppe (Schmalz) durch Klavierstimmen, Poppe ein Klavierstück von Saunders (Shadow) durch eine Geigenstimme. Das Werk schlägt zahlreiche Finten. Ein ziemlich witziger Wittener Witz oder eine ziemlich ehrwürdige Komposition zweier ganz Großer des Neue-Musik-Business? Es spielen Sarah Saviet, Joseph Houston. Dem engen Programmfenster zum Opfer fällt die Live-Ausstrahlung von Glasfluss von Elnaz Seyedi für Schlagzeug solo.
Kafka, kannst du bellen?
Auch das Abendkonzert aus der St-Johannes-Kirche fixiert erfolgreich unterschiedliche Programmpositionen. Weniger fesselnd die preziöse Ästhetik von Chiyoko Szlavnics Whorl Whirling Wings nach Sappho, Kafka und anderen, das getragen rezitierte Worte in Zirp- und Raschelsounds einbettet (UA, Vokalensemble Exaudi, Leitung James Weeks). Bei Kannst du bellen? für Kontrabass solo (Florentin Ginot, 2020 schon als grandioses Lockdown-Tape gehört) demonstriert Djordjević bei packendem kleinräumlichem Gestaltenreichtum noch einmal ihre Fähigkeit, Kraft und Imagination zusammenzubringen. Die Engländerin Naomi Pinnock versucht in Landscape für Stimmen (UA), Landschaften vor menschlicher Einflussnahme erlebbar zu machen. Dass Silben zu Klangphänomenen werden, ist ein alter Neue-Musik-Hut – der Landscape aber alles in allem gut ansteht.

Der Däne Hans Abrahamsen zielt in Violin for Carolin für Solovioline auf eine andere Einfachheit. Fünf kurze Sätze (UA) bieten sanft mutierende Motivrepetitionen bis hin zu diffizil Bruchstückhaftem – Satz vier klingt wie übler Haarspliss oder ein ersaufender Wurf Welpen. Howl für Stimmen von Mikel Urquiza kann als universales Heulen über die unerquicklichen Zeiten verstanden werden (UA), aber der Kritiker hat – aus ästhetischen Gründen – wenig Lust mitzuheulen.
„Spätwerk“: Trio Accanto und Trio Recherche
Mit einem hohen Anteil von Uraufführungen bleiben sich die „Tage“ auch am Sonntag treu. Dass dabei eine UA von Lachenmann herausspringt, zeigt nicht zuletzt den Stellenwert des Kammermusikfestivals. Zuerst aber verschränkt Luca Francesconi gestische Knappheit und Divertissement. Forze visibili ist da stark, wo Francesconi ideenreich Spannungsfelder zwischen konzentriert und assoziativ austestet, und da schwach, wo subjektive Versponnenheit dominiert. Kristine Tjøgersen hingegen lässt in Habitat für Streichtrio Stimmen von vom Aussterben bedrohter Tierarten schwirren.
Das Streichtrio Nr. 2 von Helmut Lachenmann zelebriert nicht ganz überraschend die Poesie an der Schaltstelle von kargem Klang und Geräusch. Wird die Aura, die das Werk einfordert, vom Zuhörer jedoch verweigert, bleibt nicht viel mehr als Manier, wenn auch eine fabelhaft konzentrierte. Von einer jungen Komponistin vorgelegt, hätte ich das immerhin 24-minütige Stück womöglich „Lachenmann aus dritter Hand“ genannt. Ohne den raunenden Habitus des Spätwerks kommt Ins Offene von Beat Furrer aus. Das tariert Form und Sinnlichkeit in gelungener Weise und wagt eine unübersichtliche Vielteiligkeit. Spannend.

Ausgerechnet im abschließenden Orchesterkonzert geht dem Festival ein wenig die Puste aus. Das liegt nicht am trennscharf spielenden Sinfonieorchester des WDR unter Bas Wiegers. Was Lachenmann wohl zu Stèle for Vierne sagen würde? Francesco Filideis Louis-Vierne-Hommage leidet an zwei Dingen: an Übersichtlichkeit und an quälender Überraschungslosigkeit.
Bäume, Mond, Augen, Poppe, Vierne, Applaus
Das gilt fast noch mehr für marled von Malin Bång, eine eklatant ungegliederte Meeresstudie (am Flügel: Rei Nakamura). Das Nachtstück Von Bäumen, Zärtlichkeit, Mond, erneut von Milica Djordjević, ist gewohnt mikromotivisch sturkturiert und folgt doch eigenem Puls. Das Stück vergeht im Flug. Enno Poppe verflüssigt schließlich in Augen 25 Gedichte von Else Lasker-Schüler. Heraus kommen abenteuerlich schlingernde Miniaturen. Es scheint Poppes Absicht gewesen zu sein, ein möglichst großes Spektrum an Äußerungsformen und Deklamationsarten abzudecken. Das schallt mal herzhaft expressionistisch zupackend, mal neckisch tändelnd. Die Musiksprache bleibt dabei stets wohltuend konzentriert, nicht zuletzt da Sopran Sarah Maria Sun intensiv vorträgt. Die Uraufführung heimst leidenschaftlichen Applaus ein.
Alle Konzerte werden von der Klassikwelle des WDR generös und zumeist fangfrisch von den Ufern der Ruhr ausgestrahlt.
Mir hat’s Spaß gemacht.
Kritik Wittener Tage für neue Kammermusik: „Und nur ein einziges Buh“ (Eleonore Büning). „Glänzend ausgehört“ (Lotte Thaler)
Leider wird keiner von denen ein Mozart oder Wagner oder Verdi werden. Das sind halt Zeitgelüfte, die sich lösen wollen. Wie sagte Goethe : dreimal in der Wochen mußt du pupsen. Oder wars Luther ?
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Aber warum soll man sich nicht auch mit den kurzfristigen Gelüsten (oder Problemchen) des Menschen beschäftigen ?
Im übrigen sind von den 70.000 geschriebenen Opern ja auch nur 70 übriggeblieben, die ständig aufgeführt werden. Also vielleicht kommt ja hier und da doch noch ein Richard Strauss, den wir bisher nicht kennen. Nur die Wahrscheinlichkeit scheint mir geringer zu werden, da die Schönheit keine besondre Rolle mehr spielt. Gibts noch jemanden in der modernen Musik, der es wagt schöne Musik zu schreiben ? Und wenn nicht, wieso denn bloß nicht ? Gibt es keine Probleme mehr, die man durch schöne Musik lösen kann ??
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Ich erinnre mich noch an einen Vortrag des damals modernen Komponisten Wolfgang Rihm vor ca. 35 Jahren im Otto-Braun-Saal, von der Ernst-Thälmann-Stiftung extra für ihre Stipendiaten organisiert. Und der raisonnierte doch tatsächlich darüber, ob er nun besser vor oder nach dem Mittagessen kopulieren sollte. Vielleicht hat er das ja nicht ganz ernst gemeint, aber ein Grund, um seine Musik nicht anzuhören, wars doch.
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Wagner gründete ein Festspielhaus zum Ruhme seiner selbst und seiner Musik.
Verdi gründete ein Altersheim und ein Krankenhaus für Bedürftige, die es beide heute noch gibt
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Wow, Respekt
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Runnicles sagt Meistersinger ab , Stenz stattdessen. So ein Mist
Was ist denn gerade mit den Berliner Dirigenten los?
Petrenko, Barenboim, Ticciati, jetzt Runnicles
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btw Anja Harteros sagt zum 346. Mal ab – – Maddalena – Chenier
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Ja, war teilweise schon sehr gut…
Radio Filharmonisch Orkest mit drastischem Programm, funktioniert aber wahrscheinlich: Verdi versus Wagner. Kann man glaub ich verstehen, deshalb auf niederländisch:
Italië versus Duitsland, Verdi versus Wagner. Met een sopraan als Lise Davidsen is de grote muzikale richtingenstrijd van de negentiende eeuw (aus dem 19. Jh) niet meer van belang
https://www.radiofilharmonischorkest.nl/en/concerten/lise-davidsen-verenigt-duitsland-en-italie/
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Guggeis statt Barenboim jetzt auch bei Elektra. Sollte Pape tatsächlich singen?
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Pape-Absage wäre womöglich nicht schlimm. Ein guter Orest sollte doch eine gute Portion Bariton haben, damit er glaubwürdig rüberkommt. Seit wann morden schwarze Bässe?
Habe nie einen besseren Orest gesehn als Harald Stamm, der zur gleichen Zeit Duo-Liederabende mit Kurt Moll gab. Die Mischung der beiden Bässe, der eine schwarz, der andre hell, war ziemlich unvergesslich.
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Günter Groissböck vielleicht als Orest? Aber den muß man sich leisten können.
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Ich sag mal, Pape ist fantastisch gut als Orest, und Groissböck ist seit vielen Jahren wohl der beste Orest überhaupt.
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War das jetzt der blanke Hohn oder die Wahrheit?
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Nur Preussendenke. Es gibt keine Möglichkeiten, nur feststehende, nicht zu errüttelnde Fakten. Hab‘ ich auf Elternabenden oft genug erlebt.
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Und was haben die beiden noch gemeinsam? Beide haben bloß eine einzige Komödie geschrieben, nur daß mir die vom Wagner noch zwei Tage hinterher auf die Nerven geht.
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Inspiration makes it all.
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Wer dieses nicht erkennen kann :
Den seh man mit Verachtung an.
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