Zwei Wochen Musik in Berlin. Ohne große Oper, dafür mit kleinem Theater. Nämlich im BKA am Mehringdamm, und das gleich zwei Mal. Am Dienstag gibt es Anfang Oktober Frauenstimme und Tuba bei Unerhörter Musik zu hören. Die Akteure: Lore Lixenberg und Jack Adler-McKean. Fünf Stücke erklingen. Zuerst von dem jungen Londoner Patrick Friel A Different Tune (2019, UA), wo die Stimme von Lixenberg (einsatzfreudig, aber weniger PS als die Stimmen der Leuchtturmhochkulturstätten) genüsslich Silben und Vokale zerfleddert. Auch der textlos bleibende Zuhörer zu Hause fühlt sich da in etwas reingezogen. Dann die bitterbunte Brexit-Glosse namens theVoicePartyOperaBotFarm von Lixenberg. Nun ja. Der eine steht so zum Brexit, die andere so. Lixenberg ist sehr aktuell, das Stück ästhetisch nachrangig. Das Anti-Trump-Stück vom letzten Ultraschall war auch ziemlich langweilig.

Dann aber Jack Adler-McKean an der Tuba (plus Elektronik). Er spielt Nonos spätes Post-prae-Ludium No. 1 ‚per Donau‘ aus den Risonanze erranti (1987). Es ist ja nicht gänzlich falsch, wenn man sagt: Das hat was. Lapidares Pathos, ziemlich viel Können (besonders im Weglassen), solitärafte Schärfe der Einzelheit. Packend-still. Ganz ähnlich in der Wirkung dann La fabbrica illuminata (1964) des selben Komponisten. Die Würde des Werks teilt sich auch in der Live-Übertragung mit. Nett die Bekanntschaft mit Georg Katzers witzigem, schlagfertigem Dialog Imaginär für Tuba mit Hegel (2008) aus der Dialog-Imaginär-Reihe. Trotz Elektronik ist das Stück nah am (Klang-)Material. Die Katzer-Pflege in Berlin lebt. Dann noch eine zweite Uraufführung, Self-Portrait Music von Frédéric Acquaviva. In dem Stück balancieren Stimme und Tuba wie auf einem Hochseil. Self-Portrait Music agiert dabei rezitativisch präzise und ist fast zu schnell vorbei. Gehört im YouTube-Stream.

Hadelich: zart wie ein Pinselstrich

Hadelich Thema Andante assai / Foto: Digital Concert Hall/Berliner Philharmoniker

Unbedingt hören wollte ich den Geiger Augustin Hadelich, der bei den Philharmonikern mit Prokofjews Zweitem debütiert. Weil unterwegs in Brandenburg (Richtung Nauen, Ribbeck, Fehrbellin), höre ich das Konzert ein paar Tage später in der Hall nach. Es ist eine Freude. Gustavo Gimeno, der auch debütiert, und Hadelich sind schön langsam. Hadelichs Ton summt Biene-Maja-süß. Die Geigen-Linie: süffig, mit ganz zartem Portamento. Ein Ausnahmekönner. Ein Auskoster. Das Thema: wie ein Pinselstrich. Später höre ich, dass er auch griffig kann. Aber diese Kessheit bei mühelos erreichtem höchstem technischem Gelingen, erinnert sie nicht an Hilary Hahn? Das schallt heute Abend hinreißend jung, neugierig, verschmitzt. Im zweiten Satz werde ich unruhig. Gimeno macht alles mit, was Hadelich da an Durchsonntheit auffährt. Ob so was Prokofjew gerecht wird oder hier schlicht die Scheiblette vom Hawaiitoast tropft, wer weiß das schon. Das Concert Românesc, folkloristisches Frühwerk, Ligeti, ist harmlos. Rimskys Scheherazade zelebriert Gimeno regelrecht, auch was die Zeitnahme angeht. Das Solo von Noah Bendix-Balgley ist hinreißend, obwohl (natürlich) zwei Könnensstufen unter dem Spiel von Hadelich. Tipp: Hadelich ist im Februar auch beim DSO mit Bruch Nr. 1. Da könnte man hingehen.

Kreuzberg zum Zweiten: Frauen der Nacht am Mehringdamm

Eine Woche später ist „Ladies‘ Night“ im BKA-Theater. Auf dem Programm: Werke für Sopran. Nicht nur kommen die vier Musikerinnen aus Hamburg. Hamburger ist auch Sascha Lemke. Sein neues Werk …t…o…i… windet sich stammelnd um ein Gedicht aus neun Wörtern. Marcia Lemke-Kern singt. Ziemlich ähnlich klingt Einlass und Wiederkehr von Charlotte Seither (2004), variiert aber Gesten und Dynamik stärker. Andrew Normans quicklebendiges Sabina für Bratsche solo transformiert römische Lichteindrücke in sperriges Bratschengemurmel (Mari Viluksela mit viel Gefühl).

Länger, aber ähnlich hochkulturig dann von René Mense Die Sonne sinkt (2012) auf das gleichlautende Nietzsche-Gedicht. Das Stück gibt sich fast traditionell expressionistisch. Hand aufs Herz, das sichert ihm keinen Preis für Innovation, aber ein angenehm zu hörendes Niveau. Libby Larsen umgarnt im Folgenden den Hörer mit dem soliden Dancing Solo für Klarinette solo (1994). Da bekommt sicherlich niemand einen Herzinfarkt, aber Pamela Coats kitzelt da alles an Farben und Gesten heraus. Präziser und dank der Stimmsprünge wagemutiger klingt Alma der Griechin Lina Tonia (2020). Das wenigminütige Werklein zentriert sich um ein Gedicht von Dehmel, das von Alma Mahler vertont und nun ins Englische übersetzt wurde. Tickt so das Europa von 2021?

Da kommt die Tocatta à l’acte von Manuel Rodríguez Valenzuela (2015) gerade recht. Ehrwürdiges Scarlatti-Material wird hier verhackwurstet. Unterhaltsam, sehr lustig, sehr hörenswert – vielleicht ist das Ganze ja auch nur ein Witz (am Klavier Jennifer Hymer, die vierte der nächtlichen Ladies). Ach ja, Neue-Musik-Programme verhalten sich wie Wagenstandszeiger. Sie stimmen selten mit der Wirklichkeit überein. Heute sind mal wieder Stückfolge und -auswahl betroffen. Hoppla! In dem drei Lieder umfassenden Space, in Chains (2016) von Jessica Meyer überfordert die hohe Lage die Sopranistin Lemke-Kern einige Male. Mächtig in Mode, zumindest in Berlin, ist gerade die 2016 verstorbene Ursula Mamlok. Zurecht, wenn man hört, wie verführerisch leicht Rhapsody (1989) daherkommt. Das Werk ist alles zugleich: klar, poetisch, und eigenständig. Auch dies habe ich auf YouTube gehört.

Nagano, Béatrice, Ariadne, Bruchlandung mit Ockeghem

Am Sonntag noch das Konzert Naganos beim Rundfunkklangkörper vom DSO. Zuerst Béatrice et Bénédict, Berlioz‘ Ouvertüre nach Shakespeares Viel Lärm um nichts. Die Ouvertüre steht beispielhaft für Berlioz‘ Spätstil: feinste Linie à la Ingres und geläuterter Lyrismus. Pomp von unendlicher Reinheit (Posaunenstelle) hält sich die Waage mit fast mathematischer Klarheit. Und im Melos ist noch ein Rest Schwips vom Carnaval romain. Kent Nagano dirigiert das fein austariert zwischen Ernst und Ironie, aber eben auch durch intellektuellen Schwung versachlicht, wie man das nicht anders von ihm erwarten würde. Sehr gerne höre ich das Werk.

Dann der mir (und Ihnen) vollkommen unbekannte Rodolphe Bruneau-Boulmier mit einem Klavierkonzert. Die formidable Mari Kodama spielt. Das Konzert heißt Terra Nostra und baut ausführlich Ockeghem ein. Das ist schon eine harte Nummer. Terra Nostra ist a bisserl prätentiös, ziemlich unnütz, ziemlich geschmacklos. Straussens Bürger als Edelmann (nach Molière) hingegen entzückt. Die Suite bündelt Musik aus dem missglückten (ersten) Ariadne-Projekt von Hofmannsthal/Strauss Anno 1912. Unter Nagano präsentiert sich das ganz ohne Nebenwerkcharme, tönt elegant-schlank, aber auch direkt. Mit souveräner Entdeckerfreude schmilzt Nagano Farben in Linien ein. Auch dieses Prachtstück, in dem Barock-Französisches, Bayerisches und wohl Wienerisches sich verquicken, höre ich gerne.

Kleiner Nachtrag: Naganos DSO-Konzert Ende Juni hörte ich mit Begeisterung. Ich war wegen der auslaufenden Saison aber zu faul zum Fertigschreiben. Vor allem der glasklare Beethoven von aufregend schmächtiger Statur (Klavierkonzert Nr. 2, Solist der flotte, auch hinreichend poetische Seong-Jin Cho) war dufte, und Nagano wahrte großartig den Zusammenhang. Das sage ich, weil ich bislang nie zu Nagano ging. Gehört auf DLF.


Weitere Kritiken: In den Raum stellt (Isabel Herzfeld)