An der Staatsoper will man’s wissen. Es läuft die schon dritte Streaming-Premiere der Saison. Nach Lohengrin und Jenůfa wird jetzt Figaro neuinszeniert, gestreamt (auf Medici TV) und gesendet (RBB). Figaro? Aber den gab’s doch schon. Stimmt. Flimms beliebter Sommerfrischen-Figaro von 2015, damals mit Röschmann, D’Arcangelo, Prohaska, Crebassa, von Dudamel tiefenentspannt und leuchtend dirigiert, hielt nur fünf schlappe Saisons. Sei’s drum, nun präsentiert man Unter den Linden Mozarts Le Nozze di Figaro, die Oper der Täuschungen und Intrigen, neu durchdacht und bebildert von dem Franzosen Vincent Huguet, dessen Wiener Frau ohne Schatten unlängst durchaus zwiespältig gesehen und gehört wurde.

Graf und Dienerin / Foto: Livestream Staatsoper/medici.tv

Flimm, damals noch in Intendants-Würden, versetzte das Italienische Singspiel in vier Aufzügen in die 1910er bis 20er samt Leinenanzug und Knickerbocker. Jetzt beamt Huguet Mozarts Buffa-Personal gleich in die 80er. Huguets Figaro-Welt ist bunt, schrill, extravagant, italienisch-luxuriös, Designer-Fummel inklusive. Jeder Akt ist ein Fashion-Feuerwerk.

Der erste Aufzug wird von der Mondrian-bunten Küchenzeile dominiert (Bühne: Aurélie Maestre). Zweiter und dritter Akt spielen in einem Designer-Traum aus Blattgold und Sichtbeton. Im Final-Akt öffnen sich zwischen postmodernen Kuben von Dachaufbauten kleine Terrassen. Dazwischen sprießen dekorative Orangenbäumchen im Pflanzkubus, ganz oben hängt fotorealistisch der Mond. Ganz so Optik-dominiert, wie sich das jetzt anhört, ist Huguets Mozart-Deutung aber auch wieder nicht. Die Bilder, übrigens perfekt ausgeleuchtet, fügen sich erstaunlich geschmeidig den Handlungslinien mitsamt ihren Gefühlswallungen und -verirrungen, die im Figaro nun einmal passieren.

Dabei startet Mozarts toller Tag müde und uninspiriert. Die Aerobic-Show stellt ziemlich oberpeinliches Inszenierungs-Gemüse dar, und dann kommt auch noch das maue Duettino des Dienerpärchens (Cinque…, dieci…), die Körbchengröße. Überhaupt, Situationskomik ist nun wirklich nicht das Ding von Vincent Huguet. Lustig ist aber, wenn Graf und Gräfin zwischendurch plötzlich heftig turteln. Auch gut: Unter den jubelnden D-Dur-Akkorden der allerletzten Final-Takte schnappt sich die Gräfin den Cherubino und der Graf die Susanna und verschwinden in die Büsche. Es steckt in dem Abend gleichzeitig etwas sehr Heutiges, Kühles, Unvorhersehbares. Schnöde konventionell ist Huguets Figaro mitnichten. Denn er zielt weder auf eine allzu oft gesehene Wehmut zart leidender Seelen noch auf eine quirlig überdrehte Buffo-Motorik à la Flimm. Gutes, solides, sehenswerteres Repertoire-Theater, würde ich sagen.

Graf und Gräfin / Foto: Livestream Staatsoper/medici.tv

Dieser Graf (Gyula Orendt) ist drahtig und schlank. Der Almaviva einmal nicht als libertäres Ekel, sondern als irgendwie ziemlich coole Socke, intelligent und charmant. Vor allem ist Orendt sängerisch immer zur Stelle, ein leichter Bariton ist zu hören, tonschön, stets flexibel, kontrolliert die Dynamik, so führt Orendt die Stimme wundersam passgenau durch Eifersuchts- und Verliebtheits-Rage. Ihm zur Seite steht die gedankenvolle, junge, aufregend natürlich spielende Gräfin der Elsa Dreisig (zuerst im glitzernden Glamour-Fummel, später im pinken Haus-Outfit mit Puschelpantoletten, Kostüme Clémence Pernoud). Da spricht etwas anregend Jetziges aus ihrer Verlorenheit, ihrem Pragmatismus. Dreisigs Porgi, amor tönt subtil und sensibel, jeder Ton zählt, es ist ein Es-Dur-Flug auf Sicht, zwingend in allen Ausdrucksnuancen.

Die temperamentvolle Susanna singt Nadine Sierra (wahlweise im Hausbediensteten-Kittel oder im frechen Rüschenröckchen). Sierras Stimme: dunkel timbriert, von angenehmer Schwere. Blühend und Arien-intim ihr Deh, vieni. Ihr zur Gatten-Seite steht der Figaro von Riccardo Fassi. Der ist heute Abend ein junger Schlacks, dem die Lockentolle frech auf der Stirn sitzt. Da steht kein viriler Revoluzzer, sondern ein Halbstarker in Fransenjacke und Westernstiefeln. Nur das verwegene Halstuch sorgt für einen Hauch Risorgimento-Gefährlichkeit. Anfangs unfrei, schallt Fassi dann frisch und betörend jung, allerdings nicht souverän bei Spitzentönen.

Überrascht beim Petting / Foto: Livestream Staatsoper/medici.tv

Gut besetzt auch der Cherubino von Emily D’Angelo, der als erotisches Nervenbündel (jungenhaft hochgewachsen im 2021 schicken Blouson, stimmklar und nuanciert in Arie und Arietta) für steten Gefühlswirbel bei Herr- und Dienerschaft sorgt. Marcellina und Bartolo sind das üblich groteske Nebenfigurenpaar. Mezzo-vif spielt und singt das Katharina Kammerloher als attraktive Dauerwellen-Schickse. Neben ihr agiert Maurizio Muraro im seriösen Dreiteiler. Den schmalzig-servilen Don Basilio (fliederfarbenes Poser-Hemd) singt Stephan Rügamer gestenreich mit deutschem Italienisch. Dem Don Curzio gibt Siegfried Jerusalem (Sturmfrisur, Anzug, Stock) Richter-Würde, den dienstfertigen Gärtner Antonio verkörpert David Oštrek. Als Barbarina gefällt Liubov Medvedeva mit ihrer Cavatine, in der ein Teenager, der vor schierer Jugend etwas schwer von Begriff scheint, herzerweichend über den Verlust einer Anstecknadel singt.

Susanna und Figaro / Foto: Livestream Staatsoper/medici.tv

Daniel Barenboim dirigiert piano-subtil, genießerisch bewegt, Bläser-bedacht. Er nimmt die komische Oper so leicht wie nötig und so verschwiegen wie möglich. Es ist aber auch ein Mozart der überlegenen Disposition, was kantable Durchhörbarkeit und Affekt-Nuancen angeht, ein Mozart des maßvollen, mitunter beschaulichen Tempos, wobei die übergreifende Linie immer gewahrt bleibt. Organisch, zwanglos und leicht entfalten sich die Ensembles. Immer spürt man den Buffa-Grund dieser Oper, in der es an Depressionen und Enttäuschungen wahrlich nicht mangelt. Der Chor singt mit Maske, live hat man ihn selbstverständlich genauer im Ohr.

Schade (und schnöde) ist es, dass man bei Medici TV kein anderes Format findet, als beim Schlussapplaus die Hälfte der Bühne durch den Abspann von Besetzung und Produktionsteam zu verdecken und dann sogar vorzeitig ausblendet.


Weitere Premieren-Kritiken zu Le Nozze di Figaro: „Gold, Lila, Glitzer“ (Christiane Peitz), „Fein und böse“ (Maria Ossowski)