Zwei Monate hat die Staatsoper geschwiegen. Am 13. 12. streamte man aus dem schweinchenrosa Knobelsdorff-Kubus den Corona-Lohengrin von Bieito. Genau zwei Monate später feiert Jenůfa Streaming-Premiere, ohne Publikum, in vorerst nur einmaliger Aufführung. Die Medienpartner 3sat und RBB senden. Die Oper (tschechisch Její pastorkyňa, Ihre Ziehtochter) von Leoš Janáček ist kristallklarer Verismo, ins Bäuerlich-Tschechische gewendet. Drei kurze Akte, die heutzutage der dramaturgischen Intensität wegen meist in knapp zwei Stunden am Stück runtergespielt werden. Die Oper Jenůfa erzählt von Leidenschaft, von Eifersucht, Leichtsinn, Trunksucht und unerschütterlicher Liebe.
Und von dem Wundervollem, das im Menschen steckt. Janáček sieht mit seiner Musik den Protagonisten in die Herzen. Da ist alles gedrängte Substanz, hat alles Schlagkraft, von den motivischen Repetitionsmustern bis zu den glühenden Aufschwüngen. Und das Dorfdrama wendet sich trotz allem Horrormuff sogar zu einem Happy-End, das aufrichtig rührt. Was will man mehr?

Apropos Dorfmilieu. Das präsentiert Regisseur Damiano Michieletto in seiner Inszenierung modern-kühl. Man sieht einen vorne offenen, eisblau hinterleuchteten Kubus aus transparenten PVC-Hohlkammerpaneelen (Bühne: Paolo Fantin). Darin stehen vier Massivholzbänke Typ Ikea Nordby. Mehr Empathie will Michieletto nicht wagen. Richtig vom Hocker haut einen die Baumarkt-Anmutung nicht. In einer Ecke drängt sich schüchtern Ostkrempel: brennende Kerzen, eine Tisch-Monstranz, ein kitschiges Kreuz, vergoldet – letzte Reste slawischer Frömmigkeitsfolklore. Hübsch die Kostümkreationen der Dorfleute, die pi Mal Daumen aus den Siebzigern stammen und deren angegrautes Pastellblau (Carla Teti) seit ein paar Jahren in jeder zweiten Inszenierung zu sehen ist, von Tscherniakow bis Wieler/Morabito. Macht nichts, sieht trotzdem stimmig aus.
Jenůfas Verlobter Števa ist ein Bruder Leichtfuß, aber kein Tunichtgut. Ladislav Elgr (Camouflage-Kittelchen, Sträußlein in der Brusttasche) spielt und singt das packend in aller Partylust und aller stumpfen Verzweiflung. Der treu liebende Laca ist ein sympathischer Tollpatsch mit zerknautschter Miene, der mit spannungsvollem Tenor (Stuart Skelton, zu Anfang bisserl rau) seine Liebste doch noch gewinnt. Die zentrale Figur der Küsterin und Stiefmutter macht Evelyn Herlitzius (in grau-brauner Kostümuniform) zum Ereignis. Ein Sopran wie Stahlwolle. Mit jeder Faser dingt ihre Stimme – essigsauer, gleißend – in die Faltungen dieser vereinsamt-tragischen Persönlichkeit. Vielleicht kann das derzeit niemand besser.
Camilla Nylund zeichnet die Jenůfa als eine Frau mit starken Gefühlen, als innerliche, zutiefst zweifelnde Natur, halb Landpomeranze, halb Dorfschönheit. Vor lauter Ich-weiß-nicht-aus-noch-ein klammert sie sich an ein Kräutertöpfchen. Nylund hat die Physis, den Ausdruck, die Farben, die Höhe – nur dass das Tschechische nicht mit Legato-Leichtigkeit, sondern eher mit finnischer Gründlichkeit aus ihrem Mund hervorgelockt wird. Es ist ein gelungenes Rollendebüt.

Genau gezeichnet erscheinen auch die Nebenfiguren. Freilich, die Personenführung könnte mehr Biss vertragen. Als alte Buryjovka bietet Hanna Schwarz (eisgraues Haar) eine packende Gesangsleistung. Man genießt selbst am PC jede Sekunde. Altgesell Jan Martiník ist ein Bär in schlecht sitzender Schlabberhose, speckiger Lederjacke und mit trostlos angeklebtem Altmänner-Scheitel. Auch ein Augenschmaus: der Richter von David Oštrek im Kunstpelzkragen-Mantel und Frisur und Bart à la Solschenizyn. Gleichermaßen gelungene Porträts stellen dessen patente Frau (Natalia Skrycka) sowie die extrovertiert schäkernde Karolka von Evelin Novak dar. Ins gute Ensemble fügen sich die Schäferin Aytaj Shikhalizada (guter Mezzo), die viel Wärme ausstrahlende Barena als Anführerin der Dorfmädls (Adriane Queiroz), der jugendlich aufgedrehte Bursche Jano (Victoria Randem, radschlagend) und die Base Anna Kissjudit (saftiger Mezzo).

Der Dirigent? Mit Simon Rattle steht ein ausgewiesener Janáček-Experte am Pult. Im Schillertheater leitete Rattle schon die Produktionen von Katja Kabanowa und Totenhaus. Der nach München verpflichtete und bald deutsch doppeltstaatsverbürgerte Brite lässt die Musik ächzen und jubeln, schillern und stöhnen, inne halten und ungestüm vorwärtsdrängen lässt. Die Staatskapelle animiert er zu farblich differenziertem, pulsierendem, nach- und miterlebendem Spiel. Nur fanatische Fans von Binnenstimmenklarheit und Transparenz werden unzufrieden sein. Die von Janáček sparsam aber triftig eingesetzten Chöre – allesamt herrliche Stücke – singt der Staatsopernchor aus dem Zuschauerraum, nicht immer genau, aber deklamatorisch geballt.
Wie lautete das Fazit der Kritik? Die Jenůfa-Premiere bringt eine brauchbare Neuinszenierung, die sorgfältig von den Sängern mitgetragen wird. So weit, so gut. Wenn, ja wenn da nicht das Eis wäre. Das erhebt Michieletto, koste es, was es wolle, zum Signum der Neuproduktion. Wenn Števa den ersten Auftritt mit Echteisblock absolviert, wenn die Küsterin fingerklamm Eis zerbröselt, wenn ein alptraumgroßer Eisbergzapfen von der Decke schaukelt, dann weiß jeder, was gemeint ist. Aber das Winken mit dem Regie-Zaunpfahl ist selten die intelligenteste Lösung.
Weitere Premieren-Kritik Jenůfa: „Verloren am Orchestergraben“ (Ulrich Amling, Frederik Hanssen), „Nicht zu übertreffen“ (Maria Ossowski)
In der 3sat-Mediathek: hier anschauen!
Finde die Kritik angemessen und zutreffend – nur werden leider Laca und Steva verwechselt.
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Ziemlich schlechte Inszenierung trotz einiger Lichtblicke bei der Zeichnung der Personen wobei zu sagen ist dass Jenufa eine der Opern ist die mit jeder Inszenierung funktionieren ähnlich Rigoletto oder Tosca — — einfach weil die Story so gut ist.
Ich schätze dass die tranzluzenten Plastikvorhänge auch beim zweiten Anschauen nicht gewinnen.
Die Bühne hatte einfach einen billigen Touch. Sogar lieblos
Nylund ungeheuer überzeugend litt aber unter dem etwas lächerlichen klein-Mädchen Kleid.
Dass der Elgr so ein massiver Klops war passte sogar.
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Dann muss ich gestern Abend einen anderen Stream gesehen haben …
massiver Klotz zu schreiben, ist eine Frechheit ..
Und dann noch ….🤔 naja kann der Schreiber mal selber rausfinden.
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bitte namen und rollenzuordnung der tenöre prüfen!
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Tat mir auch schwer mit so viel Plastik auf der Bühne und schwankte in der Einschätzung zwischen den Abtrennungen eines Schlachthauses und der Atmosphäre wie in einem Iglu. Die Lichtregie und ihre Farbwechsel war mir zu einfach gestrickt. Vermutlich wirkt das live mit Publikum noch viel statischer, weil die Kamera viel Abwechslung bot und auf die Gesichter der Sänger hielt. Rattle kämpfte mit dem Orchester tapfer gegen die eisige Atmosphäre an aber auf Dauer machte sich eine Diskrepanz zwischen Bühne und Graben bemerkbar – oben Eiszeit unten Hitzigkeit. Herlitzius war einfach Bombe! Auch sonst passte das Ensemble.
Der Michieletto war übrigens der , der in der Komischen Oper Cendrillon inszeniert hatte die letztes Jahr abgesetzt wurde und in London machte er den Tell von Rossini. De war eigentlich ganz gut.
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Es standen 8 Bänke auf der Bühne! Nicht vier!! Warum können Rezensenten einfach nicht genau hinschauen??
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Der Rezensent hat die Aufführung nicht gesehen, ….denke ich mir mal so
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Wenn der Rezensent sich schon anmaßt zu kritisieren, sollte er wenigstens die Namen der Personen im Stück richtig benennen können: Der Verlobte von Jenufa ist Steva und nicht Laca.
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Den Trend zum Livestream hat man an den Berliner Opernhäusern gehörig verschlafen. Unter den Linden zieht man sich bislang recht passabel aus der Affäre, weil der Name B. national und international zieht und die Fernsehanstalten gerne anbeißen. Anders sieht es an der Deutschen Oper aus, von der man nichts hört und nichts sieht außer ein paar Streams aus den vorangegangenen Saisons. Man braucht nur nach Wien und München zu blicken, um zu sehen, wie man es besser macht. Genau darum geht der jüngste Zoff zwischen Thielemann und Theiler an der Semperoper. Wäre Runnicles nicht ein solch ausgeglichene Natur, würde er vermutlich lospoltern wie Thielemann. Ich könnte ihn direkt verstehen.
Zur Inszenierung von Michielotto ist zu sagen, dass sie bei weitem nicht an die wundervolle an der DO heranreicht. Steva und Küsterin waren darüberhinaus identisch wir in Charlottenburg besetzt. Dennoch Bravo für alle Beteiligten, unter den aktuellen Bedingungen eine Premiere zu schultern.
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Habe mich in diesen Zeiten sehr auf eine Neuproduktion einer meiner Lieblingsopern gefreut. Die Enttäuschung war groß, sowohl optisch als auch akustisch. Frau Nylund war sängerisch wirklich gut, wurde leider durch die Kostüme durchweg gedemütigt. Bei den anderen Hauptsängern kamen viele falsche und forcierte Töne. Eine Partie wie die der Küsterin kann man auch singen, ein keifendes Dauerforte mit ungefähren Tonhöhen ist m.E. keine wirkliche Gestaltung. Auch orchestral wurde einiges verschenkt. Sehr schade.
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@Heitkemper: Offenbar haben wir einen anderen Stream verfolgt. Auch wir haben die Oper nicht zum ersten Mal gesehen. Aber die vielen „falschen und forcierten Töne“ haben wir nicht gehört. Und die Küsterin war für uns von großer Intensität und Eindringlichkeit, zum ersten mal konnte ich mit ihrem Leid und ihrem Eingesperrtsein in den spießigen Gesellschaftszwängen mitfühlen.
Oper ist kein kostümiertes Konzert! Das gilt übrigens auch für die Kostüme von Frau Nylund, die auch wir gesanglich großartig fanden. Kostüme sind Teil der Inszenierung, und wenn sie für die Sängerin unvorteilhaft sind, ist das keinesfalls demütigend, sondern als Teil der Erzählung zu begreifen. Kattunkleidchen im Blümchenmuster lassen gut nachvollziehen, warum sich der flatterhafte Steva nach einer besseren Braut umsieht, schick und elegant.
Was die Ausstattung angeht waren auch wir nicht begeistert, aber vielleicht sollte man die Corona-Bedingungen berücksichtigen! Sowohl was das Spiel angeht als auch Umbauten etc. Und die Kosten!
Dafür war die Personenregie großartig, gerade unter den geforderten Abständen.
Wenn Sie was kritisieren – dagegen ist ja nichts zu sagen – dann aber bitte nicht mit ehrenrührigen Begriffen, wie „keifend“.
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Eine Notiz zum Verständnis:
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung habe ich nicht nur die Rollen des Steva und Laca verwechselt, sondern auch noch die entsprechenden Sänger Skelton und Elgr. Beides ist korrigiert. Ich habe Jenůfa 2020 zwei Mal an der DO gehört, Elgr zuletzt 2020 und Skelton zuletzt 2018 (als formidablen Parsifal unter Rattle) auf der Bühne bzw. dem Podium gesehen, aber genützt hat es scheinbar nichts. Natürlich, der Artikel wurde bis 2 Uhr nachts geschrieben, aber naja. Ein Dank geht an die Kommentatoren.
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Mein Sohn sagte : da läuft so ne Oper auf 3sat, mit nem ganz blöden Bühnenbild, und die sprechen alle Tschechisch
die verkaufte Braut wird’s schon nicht sein, said i
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“ Der nach München verpflichtete und bald deutsch doppeltstaatsverbürgerte Brite lässt die Musik ächzen und jubeln, schillern und stöhnen, inne halten und ungestüm vorwärtsdrängen lässt. “
I loss mi machmal genga, solltest du vuelleicht aa.
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Irgendwie mußte es von hier sein, weil Jan Martinik dabei war.
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In meinem ganzen Tosca-Leben hab’ich keinen besseren Mesner gesehn als ihn.
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Warum ? Meine Großmutter hätte gesagt : is halt a Bimscha…
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