Nun, da das Berliner Opern-Universum aufgehört hat sich zu drehen, die Stimmen verstummt sind, die Instrumente schweigen und die Häuser versuchen, mit Livestreams und Nebenbühnenaktivitäten etwas vom alten Glanz in die hässliche, neue Virus-Welt hinüberzuretten, hier also noch ein Bericht aus Unter den Linden, als die (Opern-)Welt noch halbwegs in Ordnung schien.

Musikalisch ist diese Carmen hörenswert. Anita Rachvelishvili als vokal und szenisch üppige Titelheldin, Michael Fabiano als schüchternscheuer José, Lucio Gallo als selbstironisch souveräner Escamillo, Christiane Karg als makellose Micaëla und Barenboim als feuriger Impuls- und Input-Geber erfüllen die Erwartungen. Der Applaus ist groß. 

Man hätte kaum für möglich gehalten, dass diese Carmen wiederkehrt. Martin Kušej besorgte 2004 die Inszenierung, die auf Flamencokleid und Zigarette konsequent verzichtet. Ich hörte sie 2006 im noch unrenoviert muffelnden Haus, auf der Bühne standen der mit offenem Visier singende Villazón und eine knackigen Mezzo-Charme versprühende Domaschenko.

2020 konterkariert (und konzentriert) die in staubigem Weißgrau strahlende Bühne (Jens Kilian) immer noch Bizets Feuer.

Doch wirkt Kušejs Arbeit bei erstem Wiedersehen irgendwie steif. Der als Pin-up-Prostituierte (in der Fabrikszene) oder gesichtslos geweißte Schaulustigen-Masse (in der finalen Picador- und Corrida-Szene) gedresste Chor passt dazu allerdings wie der Topf auf den Deckel. Nur Carmens Tuch darf als blutrotes Requisit eine suggestive Rolle spielen.

Anita Rachvelishvili singt eine Carmen von Format und spöttischer Kraft. Ihre Carmen versteht sich zuallererst als rassiges Superweib, leidenschaftlich lieben tut sie en passant. Ihr Mezzo ist eine Superwaffe. Doch sie handhabt diese Waffe sehr vorsichtig: mit Nuancen, feinen Freiheiten, unerwarteten Piani und einem abgründigen Klang, der Selbstbewusstsein ebenso fasst wie Verletzung. Bei aller gutturalen Sattheit tönt das frei von jedem Chargieren und wird technisch und rollenkenntnisreich wunderbar gesungen. Wenngleich es deutlich subtilere Carmens gab und gibt. 

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Michael Fabiano gibt den Don José als Glatzkopf, gehemmt, ohne Verliebtheit, aber mit fanatischer Liebesverbohrtheit. Sängerisch wird man nicht recht klug aus dem US-Amerikaner. Klingt die Mittellage so, als hätte man den aufregendsten jüngeren Tenor der Gegenwart vor sich (fester Ton, metallisches Timbre, kontrollierte Linie), so gelingt La fleur que tu m’avais jetée höchst uneinheitlich. Das hohe B gerät dünn, das Piano ist kaum resonant, der Vortrag merkwürdig unsinnlich. 

Für den Toreador nimmt sich der viril schlanke Lucio Gallo vokal viele Freiheiten, demonstriert sein Material unbeschwert und sammelt als entwaffnend offenherziger Recke Sympathiepunkte, alles in allem aber ist Gallo weit weg von einem Escamillo, wie man ihn im Ohr hat. Christiane Karg aber gelingt ein eindrucksvolles Rollendebüt als – vom Regisseur karikaturhaft überzeichnete – Micaëla. Karg hat die Kraft für die genaue Linie, für den spezifischen Klang, für konzentrierten Ausdruck. Einfach nur eindrucksvoll.  

Stimmlich sehr präsent das Zigeunerinnen-Duo aus Alyona Abramova und Serena Sáenz (Frasquita, Mercédès), insbesondere im Kartentrio, einem der Höhepunkte des Abends. Attraktiv die Zigeunerensembles, in denen auch Jaka Mihelač und Ziad Nehme (Dancaïro, Remendado) erfolgreich mitmischen. Am rechten Ort auch der kantige Moralès von Adam Kutny, der hünenhaft daherschlappende Zuniga von Jan Martiník ist eine seiner besten Rollen, beachtenswert auch der gute Lillas Pastia von Klaus Christian Schreiber

Barenboim und die Staatskapelle Berlin zeigen die Wärme, auch Wehmut der Carmen-Musik, aber natürlich auch deren Hitze. Selten klingt die meisterhafte Instrumentierung Bizets derart passend. Unwiderstehlich die Stierkämpfermusik, soghaft das Schicksalsmotiv über tremolierenden Geigen. Das ist eine Carmen, knallig, emotional, mit Sinn für den großen Atem der Szenen und Akte.

Die ursprüngliche Dialogfassung sorgt unweigerlich für Längen, nimmt Bizets opéra comique aber ernst, zumal die Sänger die Dialoge erfreulich genau sprechen. Aus der Zwickmühle Original versus „irgendwie doch nervige Sprechpassagen“ kommt man so schnell nicht raus.

Besuchte Vorstellung: Samstag, 7. 3.