Sapperlott! Das ist ein Überflieger unter den Liederabenden. Dabei fügt ein Engländer – der Tenor Ian Bostridge in Hochform – im Berliner Kammermusiksaal zusammen, was kaum zusammengehört, Robert Schumann und Brad Mehldau.

Denn fast zu problemlos fügt sich in seiner moderaten Allerweltsmoderne Mehldaus zehnteiliger Zyklus The Folly of Desire in die Nachbarschaft Schumanns. Doch er ist hörenswert, der Zyklus, wenn Mr. Bostridge ihn singt. Und das trotz Rachmaninow-artig streunender Harmonik und indiskutabler Weichspül-Piano-Begleitung. Will sagen, der Tenor holt die Lied-Kastanien aus dem Feuer. Er setzt pointierte Akzente und spießt Vokale auf wie Schmetterlinge in einer Faltersammlung. Das zweite Shakespeare-Sonett lässt Bostridge wie einen Ölfilm farbschillern, The boys I mean are not refined nach E. E. Cummings wird bekenntnishaft angeschärft. Mr. Bostridges Beitrag rettet Mehldaus Werk. Doch halt! Einiges an den Mehldau-Liedern fasziniert eindeutig. Man müsste den Zyklus nochmals hören. 

Es folgt eine leidenschaftlich genaue, eigentümliche, in allen Bedeutungsfasern und Nuancen großartige Dichterliebe. Unvergleichlich gut gelingen die introvertierten Stücke aus op. 48, die zu Mustern dessen werden, was Liedgesang der Gegenwart an diesen ollen Klassikern überhaupt vermag: etwa Wenn ich in deine Augen seh‘ (G-Dur) mit der untrennbaren Einheit von Artikulation, Deklamation und verborgenem Sinn, Hör ich das Liedchen klingen (g-Moll) mit seiner packenden Intensität und dramatischen Langsamkeit, für die Bostridges Stimme sich noch heller und eindringlicher macht, und Die alten, bösen Lieder (cis-Moll, Des-Dur) mit einem genauen Gefühlsreichtum, der auf glasklarer Textverständlichkeit und überdeutlicher Artikulation gründet. Da bringt der Engländer Dinge zum Klingen, die es bei anderen Liedsängern gar nicht gibt.

Bostridge Mehldau Schumann Berlin Kammermusiksaal 2

Bostridge wagt intellektuelles Pathos, und es überrascht dann doch, wie er das romantische Lied ohne Substanzverluste in die Gegenwart transportiert und Heines Lyrik noch an Bedeutungsschicht und -gewicht gewinnt. Tempomäßig ergeben sich interessante Lösungen. Das Nicht zu schnell von Ich grolle nicht nimmt Bostridge langsamer als gewohnt, die schon flotten Sechzehntel (Munter) von Die Rose, die Lilie, die Taube nochmals rascher, bei übrigens bestechender Diktion.

Einige, kleine Anmerkungen, nicht um den Wert des Abends zu schmälern, sondern um ihn zu charakterisieren: nicht ganz zu überzeugen vermag Ich will meine Seele tauchen. Dessen visionärer Rausch wird von Vokaldehnungen zerstückt. In The Folly of Desire sind intonatorische Unsicherheiten bei Sprüngen in die hohe Lage zu hören.

Als sinnvolle Ergänzung erklingen Vier Lieder aus opp. 127 und 142, die vor der Drucklegung von Schumann aus op. 48 ausgeschieden wurden. Von ihnen tönt Es leuchtet meine Liebe biegsam und herzzerreißend hell, während Mein Wagen rollet langsam die Pointierung gegensätzlicher Ausdruckshaltungen auf die Spitze treibt.

Der Liederabend hat eine leise schauspielerische Komponente. Bostridge biegt sich wie eine hilflose Birke im Sturm, beugt sich als siecher Schmerzensmann fast in den Flügel hinab. Derlei wird von der unbezweifelbaren Qualität des Abends jedoch mitgetragen.

Bostridge Mehldau Schumann Berlin Kammermusiksaal

Bostridges Singen ist von hoher Eigenart. Man hört innerhalb eines eigentlich schmalen Farbspektrums – das Material ist weder im klassischen Sinn schön noch üppig – eine endlos scheinende Zahl feinster Schattierungsnuancen. Die macht sich ein extremer Ausdruckswille rigoros dienstbar. Und so klingt Extrovertiertes mitreißend intim und Intimes manisch extrovertiert. Der Nutzen liegt ganz auf Seiten des Zuhörers, der ein selten aufschlussreiches Recital erlebt. Aber wie soll man nennen, was Ian Bostridge da macht? Graphisches Singen und schockierender Ausdruck vielleicht. Und ich wette, da ist  noch eine verflucht teuflische Abart eines hochgradig abstrakten Expressionismus mit im Spiel.

Drei Zugaben: Ev’ry Time We Say Goodbye, Night and Day, beides von Cole Porter und These Foolish Things von Nat King Cole.

Als Begleiter im romantischen Repertoire ist Brad Mehldau – britische Höflichkeit beiseite – ein Totalausfall. Mehldau, der im Jazzbereich eine Autorität sein mag, gebietet  ausdrucksmäßig lediglich über eine eingegraute Mittellage. Ein schattierungsfähiges Piano für die vielfältigen Erfordernisse von Schumanns Kunst steht ihm nicht zur Verfügung. Bei Cole Porter glänzt Mehldau freilich mit glasklaren Diskanttönen. Das Nachspiel zum letzten Lied aus Dichterliebe ist und bleibt aber ungenügend.