Kaum ist der Sommer da, beginnen für gewöhnlich die Münchner Opernfestspiele. So auch dieses Jahr. Während überall in der Republik die Opernhäuser dem Saisonende zutrudeln (hier in  Berlin mit Netrebko), lockt die Bayerische Staatsoper mit illustren Namen die Schönen und die Reichen und die Opernliebhaber an. Und heute gar, am heil’gen Tag der ersten Festspielpremiere, da ich Parsifal von Richard Wagner auf BR Klassik höre. Der Besetzungszettel führt die Namen Kaufmann, Stemme und Pape.

Doch nicht nur ihren Jonas Kaufmann lieben die Münchner, auch Kirill Petrenko erfreut sich an der Isar treuer Verehrung. Noch-Chef Petrenko leitet heuer das Vorspiel zum ersten Aufzug genau und durchhörbar, lässt das Abendmahlthema schlank zwischen Transzendenz und Transparenz aufsteigen, achtet auf dessen Einbindung, lässt beim Glaubensthema dann Holzbläser und Blech fließen. Das Orchester übt sich in Atmenlassen und Detailtreue. Obacht! Unter Petrenko gilt’s in München dem genauem Hinhören, Weihetöne und Erlösungsquatsch haben hier keine Chance.

Schade nur, dass Pierre Audi ohne die ganz große Frischluftzufuhr inszeniert, der Maler und Bildhauer Georg Baselitz sorgt für das zerknittert hingetuschte Bühnenbild, das sich in den Gralsritterszenen zu urweltlichen Baumlandschaften verdunkelt.

René Pape singt einen lyrischen Gurnemanz. Die Stimme ist weich, edel timbriert, wenig metallisch, hat wenig von Salminens granteliger Wucht. Pape singt rhetorisch sorgfältig, durchsetzt den von Erinnerungen geprägten Monolog des ersten Aufzugs mit ariosen Aufschwüngen. Das Stimmmaterial ist immer noch superb. Schön das Legato, das Pape zwischen energischer Deklamation einerseits und einem dem Sprechen angenäherten Parlando andererseits entfaltet. Der Vortrag ist lebendig und biegsam, wird vollkommen aus dem Bühnenmoment heraus gesungen. Nichts ist da nur abgesungen. Männlich-energische Akzente gliedern die Phrasen (des Grales Wunderkräfte stärken). Eine kurze Intonationsunsicherheit gibt es bei Da Titurel, in hohen Alters Mühen. Eine Weltklasse-Leistung.

 

Christian Gerhaher taucht als blutig versehrter Amfortas im Hosenträger-Look auf. Er geht an der Krücke, über seinen Schultern liegt ein undefinierbares Etwas zwischen Eskimomantel und Heizdecke. Gerhahers Interpretation konzentriert sich auf penible Textdeutung. Man muss sich reinhören. Affekte (Zorn: Ohn‘ Urlaub, Verzweiflung: Oh, Strafe! Strafe ohne Gleichen) haben bei Gerhaher einen feminin weichen Touch. Im rigorosen Drang zum Verdeutlichen erinnert er an Fischer-Dieskau. Ja, Gerhahers Darstellung ist offen manieriert. In manchen leisen Passagen ist das Sprechen nah und das Singen fern. Gewöhungsbedürftig ist auch der vibratolose Beginn so mancher Phrase. Kurzum, Gerhaher singt einen reflektierten, affektierten, einen larmoyanten Amfortas. Gerhahers Interpretation ist Geschmacksache. Im dritten Akt streift die Grals-Verzweiflung des Amfortas gar die Karikatur, unwillkürlich fällt mir ein ganz anders Leidender ein, Sixtus Beckmesser. Doch ungeachtet aller Fragwürdigkeiten bietet Gerhahers Amfortas Nuancen der Textdeutung, von denen andere Amfortas-Sänger nicht einmal zu träumen wagen dürften. Darum ist seine Rollenaneignung zwar unorthodox, doch richtig und hochinteressant.

Jonas Kaufmann ist Parsifal. Kaufmann, in edel-legeres Schwarz gekleidet und mit Sixpack-Brustpanzer vorm Bauch, singt mit heroischem Timbre und intensiver Deklamation. Die herbe Stimme Kaufmanns meint weniger den reinen Toren oder den freislichen Knaben, sie beglaubigt den tragischen Krieger, der seine Herkunft und Bestimmung sucht und findet. Unvergleichlich nach wie vor der raue Schmelz der Stimme. Lyrisches (Herzeleide sie heißt) hat man – auch von ihm – schon zarter gehört, der verwunderten Frage Seid ihr denn Blumen? fehlt die Leichtigkeit. Das klingt steif, gepresst. Doch bei Dies Alles – hab ich nun geträumt? ist der Münchner dank Textdurchdringung und verhangener Halbstimme dann schon wieder viril und suggestiv. Allerdings hat sich das Gutturale und Gaumige der Stimme verstärkt, die Vollhöhe hat heldische Force (Erlöse, rette mich), kann aber monochrom wirken. Kaufmann ist auch und gerade ein genauer Sänger. Die Erlösungswonne, die dieser Parsifal verspürt, wächst aus der Einsicht des Sängers in die individuelle Tragik, die Schuld, die dieser Parsifal büßen will, ist Konsequenz einer menschlichen Auffassung von Wagners spätem Tenorhelden. Fest und markant dann das finale Nur eine Waffe taugt.

 

Nina Stemme, vor drei Monaten als Kundry sowohl an der Berliner Staatsoper (mit Schager und Pape) als auch unter Simon Rattle konzertant (mit Skelton und Selig) gehört, singt eine außerordentliche Kundry. In kleidsame Violett- und Aubergine-Töne mit Bhagwan-Anklängen gewandet, lagert sie vor den traurigen Resten eines Tyrannosaurus Rex. Gewiss klingt sie während der Herzeleide-Erzählung eher mütterlich und wenig verführerisch. Doch ihre Stimme ist klangreich wie kaum eine. Nina Stemmes Kundry ist eine wissende Frau, Stemme glaubt man sofort, dass sie damals, im Jahr 31, unterm Kreuz stand. Ihr Singen ist von reicher Musikalität. Der Fokus liegt nicht auf Details oder expressiven Spitzen. Das klagende Jammer! Jammer! vom Beginn des Aufzugs kommt zahm, in den hysterischen Wutausbrüchen zu Ende des Aufzugs erreicht Stemme nicht die Intensität anderer Kundry-Darstellerinnen. Nein, Feuer und Temperament brodeln bei ihr unter der Oberfläche. Wie viel Kraft ist in ihrem Gelobter Held! Entflieh‘ dem Wahn! Nina Stemme gebietet über eine derzeit von keiner anderen Interpretin erreichte Autorität der Darstellung.

Wolfgang Koch steckt in einem unförmigen Quasimodo-Gewand (Kostüme: Florence von Gerkan), singt den zauberkundigen Bösewicht Klingsor wuchtig und kantig, schadenfroh knurrend (ihn schirmt der Torheit Schild) und in Verzweiflung die Zähne bleckend (So lacht nun der Teufel mein), manchmal indes mit erratischer Phrasierung, immer aber mit feinem Näschen für das Unberechenbare, ja Überindividuelle, das diese Figur Wagners so faszinierend macht.

Den siechen Titurel gestaltet der Bass Bálint Szabó überaus engagiert und mit mächtiger Höhe.

In den Nebenrollen überzeugen Paula Iancic (1. Knappe) und Tara Erraught (2. Knappe), Matthew Grills (4. Knappe, Eine Heidin ist’s, ein Zauberweib) sowie Manuel Günther (3. Knappe, He! Du da! Was liegst du dort), ebenso Kevin Conners (1. Ritter, Der König grüßte ihn als gutes Zeichen) und Callum Thorpe (2. Ritter). Die Blumenmädchen, dieses tiefsinnige Mädls-Geschwader, das bei noch jedem Parsifal, so rau der Parsifal und so schrill die Kundry auch singen, für ungetrübten Hörgenuss sorgt, verkörpern an diesem Münchner Premierenabend die famosen Tara Erraught, Selene ZanettiNoluvuyiso Vuvu MpofuPaula Iancic, Golda Schultz und Rachael Wilson (auch die Stimme aus der Höhe). Audis Regie zeigt sie uns als speckbäuchige und schlabberbusige Nackedeis in zerknitterten Mänteln in Schimmeloptik.

Den Schluss der Abendmahlszene mit dem Wechsel von Knabenstimmen aus der Höhe und erbaulichen Ritterchören (als düstere Urwelt-Mannen, insgesamt bis zu achtfach geteilte Stimmen) im ersten Akt finde ich wie immer langatmig, das ist Wagners blasses Nazarenertum, das selbst Kirill Petrenkos schlankes Tempo nicht aus der Welt schaffen kann. Die Szene zeigt hier eine urzeitlich erstarrte Waldstätte. Petrenko, der seit dem letztwöchigen Abschied von Simon Rattle in Berlin daselbst sehnlichst erwartet wird, dirigiert nach Stunden, Minuten und Sekunden gerechnet sogar ausgesprochen schnell. Auch die Vorspiele zum zweiten und dritten Aufzug werden durchsichtig gestaltet und exakt ausmusiziert. Nur das sequenzierte Glaubensthema zum Schluss des dritten Aktes klingt mir zu beliebig, läuft einfach gutgeölt durch, was an anderen, wenigen Stellen zuvor auch schon ungut auffiel. Summa summarum hört das Premierenpublikum perfekt realisierte Klangmischungen statt weihevoller Erbauungsmusik. Das Wagnersche Heil- und Erlösungsversprechen treibt Petrenko der Partitur mit seiner Mischung aus Genauigkeit und Akkuratesse erfolgreich aus.

Besprechung und Kritik der Inszenierung füge ich nach dem Livestream ein. Nachhören kann man die Vorstellung hier. Weitere Bilder von der Inszenierung hier.

Applaus für die Sänger, vor allem aber für Kirill Petrenko und das Staatsorchester, viele Buhrufe für den Regisseur Pierre Audi.

Fotos: staatsoper.de