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Live auf Ö1.

Turandot an der Wiener Staatsoper.

Puccinis Märchenoper ist voller gefährlicher Operettenopulenz. Ja, Turandot ist zurecht berühmt für den Bronzemassivklang der Tenorarie „Nessun dorma“. Doch halb Grand Opéra, halb Asia-Kitsch, ist Turandot zugleich ein verflixt differenziertes Stück Musik.

Lise Lindstrom singt Turandot. Puccinis Turandot-Figur liefert scheinbar einen Beweis dafür, dass Blutrünstigkeit immer einen Grund hat – zumindest in der Oper. Lindstrom bringt zur Untermauerung dieser These eine Sopranstimme von durchdringender Schlankheit mit. In „In questa reggia“ besitzt ihr Sopran bei aller zeichnerischen Härte des Zugriffs genügend Farben und Eigenart, um die Seele hinter den Noten hörbar zu machen. Lindstrom feuert keine Kanonaden; in den Mount-Everest-Höhen dieser Arie verliert der Sopran an Grip und Verständlichkeit, aber welcher Sopran tut das nicht? Lindstroms Vibrato ist deutlich vernehmbar, aber OK, schließlich steht heute Abend keine Violetta, sondern eine Turandot auf der Bühne.

Yusif Eyvazov (nein, kein Wort zu Anna Netrebko) beschränkt sich auf der Bühne mit 0/8/15-Gestik. Eyvazovs Tenor ist bei aller Klangkonzentration von angenehm leichtem Gepräge, ist von ausgesprochen hellem Timbre. Eyvazovs psychologische Durchdringung erreicht nicht Freud’sche Tiefen, Wien hin, Wien her. Doch gefällt sein jugendfrischer Zugang, der (fast) ohne weinerliche Ausdrucksnuancen, ohne naives Vokalpathos auskommt. Eyvazov bemüht sich um sinnvolle Piani. Das Vibrato kann eintönig klingen, um das h1 herum neigt sein Tenor zum „Meckern“. Schlussendlich besitzt sein Tenor die kostbare Gabe guter Wiedererkennbarkeit, und zwar hauptsächlich aufgrund einer charakteristischen Unstetigkeit der Tonproduktion (gemeinhin eher ein Manko denn ein Pluspunkt) im Zusammenspiel mit dem hellen, leichten, durchaus auch des Heroischen fähigen Klangcharakter der Stimme.

„Nessun dorma“ gelingt ordentlich. Insgesamt kurvt Eyvazov tempomäßig recht leger durch die Arie. Doch höre ich keine Rubati, die aus tenoralem Hang zu hemmungsloser Selbstdarstellung geboren werden, sondern Rubati, die womöglich auf (Ausdrucks-) Unsicherheit oder auf noch fehlende (Rollen-)Erfahrung schließen lassen. Auch das Legato klingt bemüht und etwas angelernt. Doch dem Schatten ist viel Licht beigemengt. Das letzte „vincerò“ hat Linie und Kraft. Die Top-Noten haben „genuine tenor quality“. Zugleich verzichtet Eyvazov auf aufgedonnerten Pavarotti-ismus. Die schwindelerregenden Höhen – bis zum h2 – sind Eyvazov leicht erreichbar. Am heutigen Donnerstag klatschte das Publikum keinen Applaus.

Anita Hartig singt eine Liù, die Wünsche kaum offen lässt. Der Klang gleicht glasklarem Chablis Grand Cru Vaudesir, das Vibrato ist kostbar. Hartig hat den Ton für die Seelenoffenbarung, der Klangkontur ist meist glasklar. Die Höhe vibriert geheimnisvoll und lässt eine delikate Schärfe mitschwingen. Dabei ist Hartigs „Signore, ascolta“ durchaus nicht das Gelungenste ihres Auftritts, nicht zuletzt deshalb, weil Hartig für diese Kundgabe eines sanften Herzens zu viel Intelligenz besitzt.

Timur singt Dan Paul Dumitrescu mit wolligem, deklamatorisch markantem Bass, den Mandarin singt ein stimmstarker Paolo Rumetz. Heinz Zednik singt Altoum. Ping, Pang und Pong singen Gabriel Bermúdez, Carlos Osuna und Norbert Ernst äußerst schön.

Gustavo Dudamel dirigiert. Es ist bekannt, dass Dudamel gerne auf den Putz haut. Das macht er auch in der Wiener Turandot. Doch, wie mir scheint, stets mit Bezug zum Notentext. Zudem stehen mit Eyvazov und Lindstrom Sänger auf der Bühne der Wiener Staatsoper, deren Stimmen sich in Dudamels Klangvollbad partout nicht ertränken lassen wie frisch geborene Katzenjunge. Dudamels Dirigat zeichnet sich durch rhythmischen Biss und Sinn für die Logik der Dramaturgie aus. Bei Dudamel besitzen die Motto-haften Fanfaren des Blechs die Überzeugungskraft von Proklamationen. Wunderbar flexibel werden die wenigen Stellen lyrischen Innehaltens musiziert.

Es wird die Franco-Alfano-Fassung gespielt. Wieder einmal bestätigt sich der Rang der Turandot als besonders heißer Kandidat für den Titel der besten Oper Puccinis.

Die Turandot vom heutigen Donnerstag kann bis zum 12. Mai 2016 bei Ö1 nachgehört werden.