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Noch-DSO-Chef und Noch-Berliner Tugan Sokhiev gastiert bei den Philharmonikern.
Gabriel Fauré orchestrierte Pelléas et Mélisande mit einer Mischung aus peinlicher Genauigkeit und Offenheit für Unausgesprochenes. Nicht dass Faurés karges Meisterwerk vor allem aussagekräftig wäre als kräftiger Tritt gegen das Schienbein sämtlicher Wagneristas. Doch das spielt natürlich mit.
Ich hörte Faurés fettfreie Pelléas-Suite mit den Berliner Philharmonikern zuletzt unter der (lyrikumhegten) Leitung Simon Rattles sowie unter der (heftigst pasteurisierten) Leitung Matthias Pintschers. Die Linie, die Sokhiev heute Abend wählt, hat da etwas von „Augen auf und ab durch die Mitte“. Sokhiev unterfüttert Faurés vier Maeterlinck-Malereien mit tschaikowskiesk inspirierter Streicher-Intensität. Will sagen, er vertraut auf die emotionale Schwingungsfähigkeit des Publikums. Dirigiert Sokhiev deswegen mit bedrückter Miene? Hörenswert ist das kunstvoll trauernde Flötenrezitativ Mathieu Dufours im letzten Satz über den soften Plopps der Kontrabässe.
Und dann funktioniert der Aufzug für den Flügel nicht. Wir gehen erst einmal ein Pils trinken. Nach der Pause funktioniert der Aufzug auch nicht. So sitzt Thibaudet bei Ravel eine halbe Ebene tiefer.
Maurice Ravels Klavierkonzert G-Dur schüttelt Tugan Sokhiev locker aus der Hand. Das Tempo ist nicht hoch, der Gestus fröhlich bis gelöst. Bisweilen wird das Sportliche gestreift. Sokhiev gelingen große Bögen.
Am Flügel sitzt wie gesagt der tiefergelegte Jean-Yves Thibaudet (schick übrigens der aufgestellte Kragen, easy das offene Hemd). Thibaudet spielt gelockert, platziert lebhafte Akzente, entwickelt elastische Perkussivität. Der Zuhörer soll merken: Wir sind hier mit mindestens einem Bein im Bereich geistig-sinnlicher Lebensfreude. Der zweite Satz präsentiert sich als endlose Wurst aus schier unmoralischen Schönheiten. Die Holzbläser-Soli produzieren im Zusammenspiel mit Thibaudets ein Farbklangspektakel nach dem anderen. Dazu dirigiert Sokhiev sanftgestig wie ein Schlangenbeschwörer. Diese meditativ gelöste Entspanntheit muss Sokhiev erst mal einer nachmachen.
Die Zugabe: Ravels Pavane pour une infante défunte, bei der Thibaudets Anschlag meiner Einschätzung nach dick aufträgt und Thibaudet die Gesten unkonzentriert ausspielt. Der Linken hätte man in Sachen Klang und Linie größere Unabhängigkeit wünschen können. Trotzdem sehr schön.
César Francks himmelhoch unterschätzte Symphonie d-Moll „klingt“ heute Abend. Tugan Sokhiev hält für die „d-Moll“ eine Mischung aus Rationalität und Schwung bereit. Jaja, derbe Handgreiflichkeiten am Pult sind Sokhievs Sache nicht. Unter ihm wogen Eleganz und Klangsinn hin und her. Wenn Sokhiev Ausdruck will, schwingt implizit eine überwältigende Prise Kultiviertheit des Orchesterklangs mit. Bei Sokhiev darf sich Franck ausbreiten und räkeln wie Brigitte Bardot in St.Tropez. Herzerwärmend lichterfüllt die flutenden Streicher im Finale. Und wie ein Rosenzweig wächst die Heftigkeit der Schlussapothese aus dem Organismus von Francks „d-Moll“. Sokhiev spielt das exakt aus.
OK, unter Rattle hätte das BPO mehr Massivität und Pfeffer investiert. Aber wer sich da noch über Franck beschwert, also ich weiß auch nicht. Hätten die Berliner Franck vor der Pause gespielt, hätte jeder in der Pause auf der Toilette das Ohrwurm-Thema des Finales gepfiffen.
Zwei erste Konzertmeister, Daishin Kashimoto und Daniel Stabrawa.
Der Solo-Hornist, ein Gast, ist ein blonder Bartträger, der Solo-Trompeter, auch er Gast, ein rothaariger Bartträger. Die Solo-Oboe bläst einmal wieder Ex-RCOler Lucas Macías Navarro, wenn ich das richtig gesehen bzw. gehört habe. Auch der Solo-Fagottist ist ein Einspringer – handelt es sich nicht um Till Heine vom BRSO?
Kein Schnappschuss vom tiefergelegten Thibaudet? Sah sicher lustig aus. Hat’s sich aufs Musizieren ausgewirkt?
Wie oft hat Thibaudet in den letzten Jahren eigentlich das Ravelkonzert in Berlin gespielt?
Die d-Moll-Sinfonie von Franck gibts derzeit recht häufig, hab sie in den vergangenen Monaten vom RSB und KHO gehört. Bestimmt was für Sokhiev.
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Nee, da ich dieses Mal nicht A saß und die Fotos mit meinem iPhone (die Betonung liegt auf meinem) von weit hinten verwackeln, diese Mal ohne Foto. Das ist der Fluch der billigen Plätze. Jean-Yves Thibaudet trug das Malör mit Fassung. Aber die Szene (T. unten am Klavier, S. oben auf dem Dirigentenpodium) hatte schon einen (optischen) Beigeschmack von Subordination.
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Da darf der Ravel-Satz nicht fehlen: „Interpreten sind Sklaven.“
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