Simon Rattle, Berliner Philharmoniker.
Die 4. Schumannsinfonie (frühe Version) finde ich langweilig. Zum Rattles Schumann-Brahmszyklus 2014 siehe hier.
Dann kommt Prokofjews Konzert für Violine und Orchester Nr. 1.
Daishin Kashimoto, 1. Konzertmeister, ist der Solist. Es ist ein Sieg in Etappen.
Erste Reaktion: och je. Null Rassigkeit. Kein Standing, der Mann.
Zweite Reaktion: Daishin Kashimoto spielt tonschön. Technisch makellos. Dann: der Ton? hellglänzend, strahlend-lyrisch, scheu glühend, schlank, empfindsam.
Er ordnet sich ein in die Vorgänge, die da aus dem Orchester kommen. Er hat Sinn für Zusammenhang. Er ist ernst, ruhig, mit professionellem Stoizismus bei der Sache, ist ganz ohne groteske Perspektive unterwegs. Ein Hauch von Extrovertiertheit kommt nur zustande, wenn Prokofjew dies zwingend vorschreibt (2. Satz).
Lobenswerte Balance zwischen Soloinstrument und Orchester, das mit hingebungsvoller Präzision spielt. Es ist ein Triumph energischer Entspanntheit. Eine große Leistung des Orchesters. Von unmittelbarer Wirkung ist der Beginn des Finales – Kashimoto zart und subtil, Stefan Schweigert ebenso. Alles, was einem Fagott irgendwie an Zartheit und Subtilität zu entlocken ist, Schweigert entlockt es.
Das Stück selbst ist frisch, pragmatisch, explizit in den Details – ein Meisterwerk eben.
Die 1. Schumann. Die Wirkung auf mich war positiv. Der Beginn ist Rattle-untypisch schleppend, mit schwerfälliger Orchesterbreite. Im Folgenden gefallen die an Perspektiven reiche Kontinuität des Orchesterteppichs, die elastisch, ja quecksilbrig dargebotenen Details, ferner die Verachtung gegenüber Gefühlsduseleien, die Defensive im Klanglichen (nur 5 Kontrabässe). Die euphorische Nervosität, die Rattle fordert, geht zu Lasten des traditionellen „Schumann“, aber zugunsten der Musik. So zum Beispiel im 2. Satz, dessen freier Flow – maßgeblich holzbläsergestützt – ebenso klug wie musikalisch klingt.
Mein Schlusswort: Rattle integriert Schumanns kühne Impulse in ein freies Spiel der Klänge, das irgendwie sehr 21. Jahrhundert ist.
Andreas Blau Flöte, Stefan Schweigert Fagott, Albrecht Mayer Oboe. Hornist Stefan Dohr hat frei. Daniel Stabrawa Konzertmeister.
Danke für die kenntnisreiche Besprechung.
btw die Vierte war auch nicht von schlechten Eltern. Sehr downgeshiftet, ohne symphonische Allüren.
Wenn man Schumann von Barenboim gewohnt ist wie ich und wohl so mancher in Berlin, war die 4. Sinfonie der Philharmoniker sehr kammermusikalisch angegangen
10 zweite Geigen.
Den letzten Satz spielt Rattle mit einer irrwitzigen Leichtigkeit.
Stichwort Sinfonische Fantasie.
In diesem Sinne: Es lebe der Meinungsunterschied.
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Meiner Meinung nach orientiert sich Simon Rattle derzeit bei seinen Schumann-Interpretationen eher an Haydn als an dem, was Schumann wollte. Das geschrumpfte Orchester befremdete mich einigermaßen. Und nicht nur mich, wie ich in einem Pausengespräch erfahren konnte. Dem „schlanken“ Klang vermochte ich wenig Positives abgewinnen. Einmal wirkte die Interpretation sehr rigoros, dann wieder feminin, fast verzärtelt.
Bezüglich Daishin Kashimotos war ich positiv überrascht. Der Konzertmeister der Philharmoniker bot eine eigenständige Interpretation. Einzig die Skalenläufe zu Ende es ersten Satzes hätte ich konziser gewünscht. Ich erinnere mich ungut an ein Konzert, es war entweder das 1. oder 2. von Schostakowitsch, das der damalige Konzertmeister Guy Braunstein nicht wirklich zufriedenstellend gespielt hatte.
mfg
Hinnerk
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Ja wie?
Will man ehrlich den angestaubten Schumann-Sound à la Bernstein zurück?
Zur Erinnerung: Wir haben 2013.
Kashimoto = großer Künstler.
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Beide Schumann Symphonien in Digital Concert Hall exquisit.
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@Beide Schumann Symphonien in Digital Concert Hall exquisit.
Nach einem Wochenende klassischen Berliner Novemberwetters und habe ich mich sozusagen rückwirkend an Rattles Vierte akklimatisiert.
Rattle machte eine Vierte von spezifischem Charakter.
Das wären die Kennzeichen:
überhitzt und auf aufregende Weise substanzlos
Ständiges Schwanken zwischen Hektik (1. Satz, Finale) und Empfindung (Trio)
Beschwipste Accelerandi (Finale)
Oftmals nur angetippte Orchesterschlägchen
Unabhängige Stimmen – und zwar nicht nur akustisch unabhängig, sondern sozusagen psychologisch unabhängig (eine der aufregenden Errungenschaften der Ära Rattle)
frei von aller Schwere (Klaro)
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So viele Adjektive …
Ich habe das Konzert jedenfalls sehr genossen.
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Die Befundlage war so, dass kein Adjektiv nicht ausreichte.
Grüße
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Schumann ist nicht nur Rheinromantik. Herr Rattle gebührt das Verdienst, dies klar gemacht zu haben.
WH
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