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Berliner Neujahrsmorgen. Nieselregen, is ja klar. Bis 5 auf einer Party an der Hasenheide. Um 1 dem Vietnamesen vom Hamy Café beim Abfeuern einer sagenhaften Raketenbatterie zugeschaut. Um 8 das erste Mal aufgewacht. Um 11 der erste Kaffee. Ein bisserl verspätet das Neujahrskonzert zu schauen begonnen. Ich habe dem Wiener Charme eineinhalb Stunden tief in die Augen geschaut.
Der dirigierende Franz Welser-Möst, der sich von Jahr zu Jahr näher an eine Mahler-Mähne herantastet, ist schon ein Fescher. Sein souveräner, zurückhaltender Dirigierstil gefiel mir sehr gut.
Bei den Unmengen von Walzern und Polkas, die man während eines Neujahrskonzertes konsumiert, fällt die Übersicht als Nicht-Wiener nicht leicht. Ich erinnere mich besonders gut an „Hesperusbahnen“ und „Wo die Zitronen blüh’n“.
Der Hesperuswalzer: Beginnt mit einer Streicherlinie wie ein Frauenarm von Tizian gemalt. Die Wiener Philharmoniker pflegen die Perfektionierung des Ungenauen bis zur Vollkommenheit. Der Klangduktus ist so duftig, das rhythmische Spiel mit dem Dreivierteltakt so souverän, die Linien so schlawinerhaft verschleiernd, fast hätte ich gesagt verbiegend, der sensualistische Reiz so verlockend, dass man auch wenn zehn Mal hintereinander Neujahr und zehn Mal hintereinander Neujahrskonzert wäre, nicht dahinterkommen würde, wie die Wiener das technisch machen.
„Wo die Zitronen blüh’n„: Zuerst das blühende pp-Horn der Introduktion, dann die Oboe, dann die Legato-Schleifen, auch Pianissimo, der Geigen. Dann der Walzer. Hmmm, diese aufgeräumte Feingeistigkeit bei den Streichern, diese zuckerschnütigen Streicherseufzer, die von den Wienern Herren – stimmt ja im Prinzip – so unvergleichlich angeschliffen werden. Die klangsensibelst nuschelnden Holzbläser… Ein Genuss jedenfalls, was die Flauschigkeit der Streicherlineatur und die Süße des Bläserklangs anging.
Ich muss gestehen, mein Favorit war ein Außenseiter: das prächtige Lohengrinvorspiel zum dritten Akt.
Der, mit dem ich schaute, ist anscheinend ein Experte auf dem Gebiet der Instrumentenkunde. Er erklärte mir bis ins kleinste Detail die Unterschiede zwischen den Blasinstrumenten der Berliner und Wiener Philharmoniker. Ohne dieses Thema zu vertiefen, sage ich an dieser Stelle nur, es ist eine Wissenschaft für sich.
Das Don-Carlo-Prestissimo war in seiner spinnwebfeinen Galopp-Spritzigkeit beinah schon eine Kuriosität, wie man sie in solcher auf die Spitze getriebenen Delikatesse nie in der Oper hören wird. Es gab einige Österreichiana. Walzer von Hellmesberger und Steyrische Tänze von Lanner sind in Berlin keine geringere Kuriosität als es das Frühwerk von Ligeti vor der Chromatischen Phantasie ist. Die Wiener Ballettmäuse muss man als unromantisch veranlagter Berliner über sich ergehen lassen.
EIN Grund, das Neujahrskonzert dieses Jahr zu schauen, war natürlich das in zwei Wochen anstehende Konzert der Wiener Philharmoniker in der hiesigen Philharmonie. Schlichtweg, um Ohr und Herz vom schonungslosen Perfektionismus der Berliner Philharmoniker und dem dunklen deutschen Klangbild der Staatskapelle auf den beseligenden Flauschi-Klang der Wiener umzustellen. Das ist gelungen.
Nächstes Jahr leitet übrigens wieder Barenboim das Neujahrskonzert. Liebe Wiener, den Barenboim aber bitte nicht aus Berlin wegklauen, sonst hört die Freundschaft ganz schnell auf.
Danke für den plastischen Bericht zum Neujahrskonzert. Ich schaue das Neujahrskonzert seit vielen Jahren und höre die Wiener Philharmoniker live, sooft es möglich ist. Das gilt übrigens auch für die Berliner!
Grüße aus München
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Die Wiener Philharmoniker waren und sind das beste Orchester der Welt!
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Ob die Wiener es sind oder waren oder sein werden, sei mal dahingestellt. Abwarten, Tee trinken und ein paar Kubikmeter Wasser die Spree – bzw. die Donau – runterfließen lassen. Ich würde allerdings sofort jeden Wisch unterschreiben, der die Wiener als das allerbeste Neujahrskonzertorchester überhaupt bezeichnet. Im Ernst: Auch ich freue exorbitant mich auf den Besuch der Wiener in der Berliner Philharmonie am 15.
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Sie sind trotzdem das beste Orchester der Welt. Braucht man nur mal die Hörner anhöhren, bitte schön :-)
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Zum Thema Wer-isn-nu-besser-die-Wiena-oder-die-Berlina? verweise ich auf die berühmt-berüchtigte Studie des Instituts für Wiener Klangstil. 302 Personen, davon insgesamt 84% Musiker (davon wiederum 14% Profimusiker), versuchen, anhand von 21 Hörbeispielen (Mozart bis Mahler) die Wiener Philharmoniker einerseits von den Berlinern respektive den New Yorkern andererseits zu unterscheiden. Die Dauer der einzelnen Tonbeispiele liegt bei durchschnittlich 15 Sekunden. Ergebnis: 52% der Antworten waren richtig. Das sind nur 2% mehr, als wenn sämtliche Probanden strikt nach dem Zufallsprinzip geantwortet hätten.
Nachlesen unter http://iwk.mdw.ac.at/?page_id=25&sprache=1, „Is there a typical orchestra signature in Vienna, Austria?“
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Bravo Franz Welser-Möst!!
Franz Welser-Möst gehört längst zu den ganz großen Dirigenten. Nur zählt er wahrscheinlich immer noch zu den eher unterschätzten Dirigenten. Leider.
Hermman aus Wien
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Great concert, great orchestra!
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Wie angenehm und diskret professionell der österreichische Kommentator war. Da kann sich der Kommentator des Silversterkonzerts der Berliner Philharmoniker ein, zwei Scheiben von abschneiden.
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Moment, wenn ich drei Antwortmöglichkeiten und nicht nur zwei habe, dann wäre das Zufallsergebnis 33% richtige Antworten,nicht 50%. 52% zeigen also signifikante Erkennbarkeit der Wiener rein am Klang.
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So wie ich es verstanden habe, war eine Aufnahme immer von den Wienern, und die zweite Aufnahme stammte entweder von BPh (offensichtlich nicht unter Rattle) oder NYPh. Also wohl doch eher schwach signifikant. Bei den Hörbeispielen waren allerdings weder Strauss noch Lanner dabei.
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