
Anna Netrebko vor Stufen-Prospekt: Sie trällert auf hohem Niveau / Foto: k.A. / bayerische.staatsoper.de
Nachdem wir armen Berliner Staatsopernbesucher es hinnehmen müssen, dass Anna Netrebko sich lieber mit ihrem Sohn beschäftigt als ihre versprochenen fünf Don-Giovanni-Vorstellungen in der Staatsoper zu singen, höre ich traurig aber gefasst die Live-Übertragung von I Capuleti e i Montecchi aus München an. In medias res.
Dimitri Pittas (Tebaldo) singt „È serbata a questo acciaro“ mit schlanker, klangschöner Stimme, die auch elegischer Tönungen fähig ist. Schön ausgesponne Vokallinie. Der von der DOB bekannte Bass Ante Jerkunica sang einen noblen Capello.
Vesselina Kasarova (Romeo) singt in „Se Romeo t‘ uccise un figlio“ glasklare, etwas hartnäckig vibrierende Pianissimi, was zu Leidenschaft und Feuer führt. Schön sind die kostbare Farbigkeit und der exzellente architektonische Aufbau. Kasarovas Vortrag kann etwas eckig sein, es gibt einen angestrengten, kühn von unten angestochenen, recht offenen Spitzenton in „La tremenda ultrice spada“, das Kasarova aber mit exquisit brodelnder Tiefe und kühl flammender Erregung singt. Mehrere Bravas.
Nach einer minutenlangen Pause ist es soweit… Ach Gott, ist Bellini schön. Hyperromantisches Hornsolo. Diese süchtig machende, flutende Melodielinie… Kann man irgendwie nachvollziehen, dass Verdi und Wagner seinerzeit als Musik-Rüpel und Beton-Brutalos galten, die alles, was als kultivierte Musik galt, mit in den Abgrund rissen. E poi Anna Netrebko mit „Eccomi in lieta vesta – O quante volte“. Äußerst sensibles Messa di voce, sehr bewusstes Anschwellen ihres Gesangtons. Stählern leuchtendes, wie in Messing getriebenes Piano. Vokale und Konsonanten werden in einen etwas schwerflüssigen Klangstrom („Io chiedo invano“) zusammengebunden, was zu dem Eindruck eines zähen, klanghypnotisch aufgeladenen Tempos führt. Erinnert mich irgendwie an einen Eisbrecher, der sich durchs Polareis der Barendsee schiebt.
In „Dove, dove inviarti i miei sospiri“ vermisst man die Seelensprache, aber Netrebko macht die Phrase zu einer Klangskulptur von Bernini’scher Perfektion. Auch im folgenden Andante Sostenuto „O quante volte, oh quante“ vermisst man die Sensibilität für den Seelenton, aber wie berückend singt Netrebko dann „Ti chiedo al ciel piangendo“ mit entzückendem Abschwellen auf piangendo. Auch in „quale ardor“ wird mit schwermütiger, üppiger Klangschwere vokalisiert. Die mitunter verschämten, etwas huschti-wuschti genommenen Verzierungen kann man verzeihen. Auch Sprünge auf hohe Zielnoten – die Septime in „Parmi il brillar“ und die Sexte in „intorno mi sembra“, beide aufs B – nimmt Netrebko unelegant, sprich ohne perfekte Anbindung. Fetter Applaus, aber nicht mehr Bravas als für Kasarova.
Finale des ersten Aktes: Im bewegten Rezitativ ziehe ich Kasarova deutlich vor („Già s‘ infiora, già t‘ attende“, „Ei mi sveni“). Netrebko wirkt hier offiziöser („Fuggi, ah! fuggi“). Netrebko wirkt pflanzlicher, Kasarova herzlicher; Kasarova indes weniger textverständlich (aufgrund heftiger dynamischer, mitunter überraschender Wechsel auf kleinem Raum). Die flackrigen Spitzentöne Kasarovas sind auch hier denen ihrer Kollegin unterlegen. Doch wie prachtvoll detailliert wird „Quando a me tu sei rapita?“ von Kasarova gesungen! Hört Kasarova auf und singt Netrebko direkt anschließend („Ah, cedi“), kommt mir das Singen Netrebkos eine Spur banaler, weniger kostbar, mehr auf der Stelle tretend vor. In der zusammen gesungenen Stretta hat Kasarova aufgrund der lebhafteren Linie ebenfalls die Nase vorn.
Das Orchester begleitet unter Yves Abel klangsensibel und hübsch, so wie mans für Bellini erwartet.
Uns Berlinern war ja schon immer klar, dass München die wahre und einzige Opernhauptstadt ist – es sei denn Barenboim dirigiert grade Wagner, Rattle dirigiert Pelleas oder Pape singt Gurnemanz. Ein hübscher Kasarova-Netrebko-Abend. Tja, wie gesagt, kein noch so gutmütiger Opernfreund kann in Berlin nachvollziehen, warum Netrebko ihren flotten Fünfer abgesagt hat, aber so isses nu mal. So, gleich gibt’s Essen, dann noch etwas raus in die Sonne und dann heißts sich fertig machen für die konzertante Walküre mit den Berliner Philharmonikern.
Kritik/Review: Besonders aufschlussreich ist das Zusammenspiel der doch recht unterschiedlichen Stimmen von Anna Netrebko und Vesselina Kasarova
Dirigent Yves Abel
Regie Vincent Boussard
Bühnenbild Vincent Lemaire
Ausstattung Christian Lacroix
Lichtregie Guido Levi
Romeo Vesselina Kasarova
Giulietta Anna Netrebko
Tebaldo Dimitri Pittas
Capellio Ante Jerkunica
Lorenzo Paul Gay