Musikfest Berlin 2011. Es waren viele Musiker unter den Zuhörern, und zwar solche, die es werden wollen, und solche, die es schon sind. Man erkennt sie am wachen, aber durchlässigen Blick, an der zurückhaltenden, dunklen Kleidung, die meisten sind schlank und ein praktischer Zug umgibt sie. Außerdem waren viele Musikliebhaber da. Diese erkennt man am stechenden oder vergnügten Blick, je nachdem ob es sich um einen jüngeren oder älteren Musikliebhaber handelt.
Ich war da, weil ich die Sächsische Staatskapelle hören wollte. Da die Dresdner Musiker mit Christian Thielemann anreisten, wollte ich auch Christian Thielemann hören. Am fesselndsten gelang das Nocturne Symphonique Ferrucio Busonis von 1914. Diese Musik klingt genauso, wie der Titel verspricht, und ist dennoch ein äußerst interessantes Stück. Thielemann ließ es zwei Mal spielen, was ein Segen für alle Zuhörer war, die Ohren hatten, ein Fluch aber für jene, die schon beim ersten Mal ratlos im Programmheft blätterten.
Wie Sie hören, räuspere ich mich gerade, woran Sie unschwer erraten können, dass ich im Begriff bin, das Thema Pfitzner anzuschneiden. Tzimon Barto spielte Pfitzners Klavierkonzert. Pfitzner hat ein Problem, und Pfitzners Problem lässt sich daran erkennen, dass selbst Glenn Gould, der sich hartnäckig für obskure Werke des deutschen Repertoires begeistern konnte, kein Faible für Pfitzner besaß. Wenn Sie noch nie dieses Klavierkonzert gehört haben, lassen Sie es auch in Zukunft sein. Es bereitet weder Vergnügen, noch stärkt es die Nerven. Außerdem können Sie auf dem Nachhauseweg garantiert keine Melodie daraus pfeifen. Zudem blockiert das Klavierkonzert die Zeit für die Aufführung zweier Beethovensinfonien. Weiß der Teufel, was Pfitzner geritten hat, als er dieses Konzert komponierte. Der Klavierpart reiht sich irgendwo zwischen Trommelfeuer und Mozartkugel ein.
Als Zugabe gab Barto ein Schumannstück, das er schlecht spielte. Am meisten überraschte mich Barto, als er jene drei Stufen, die vom Podium hinab in Richtung Künstlerzimmer führen, mit beidbeinigem Sprung nahm. Thielemann rauschte mit ironischer Eile hinterher.
Ich wende mich erfreulicheren Themen zu. Das ist die Sächsische Staatskapelle. Der Klang ist erheblich dunkler als der der Berliner Philharmoniker, auch als der der Berliner Staatskapelle, an den der Streicherklang der Dresdner Musiker zuweilen erinnert. Die hohen Streicher der Sachsen spielen abgeblendeter, organischer, schwerfälliger, homogener, unauffälliger und weniger konturiert als die Berliner. Der Orchesterklang ist kompakter, die Streicherlinien fließen dickflüssiger. Eine Dresdner Spezialität scheint neben dem Christstollen das Blech zu sein, das schmettern kann wie kein zweites. Ich sehe keine einzige Frau bei Celli oder Bässen, auch bei den Bläsern sitzt keine.
Und damit zu Brahms‘ Erster. Herr Thielemann, das war zu laut, zu unsensibel, zu undifferenziert. Einzig das H-Dur-Trio packte einen durch Ungehobeltheit. Ach Jottchen, was holte Abbado aus den Binnensätzen der Dritten, wie legte Rattle die Lunte ans Finale der Ersten, wie bewegte Barenboim mit dem Finale der Vierten, wie genau artikulierte Jansons die mittleren Sätze der Vierten. Jeder sagt, Thielemann mache deutschen Klang. Aber Thielemann bemüht sich erst gar nicht um einen besonderen Orchesterklang. Er nimmt ihn einfach vom Orchester, Punkt, und legt noch eine Schippe Lautstärke drauf. Fertig ist der Thielemannklang. Ich kann mir vorstellen, dass Orchester so was angenehm finden. Damit haben wir aber keine Interpretation, sondern einen Salzhering. Es fällt auf, wie wenige überraschende Details es gibt. Es gibt kaum ein subtiles Piano, kaum ein komplexes Forte. Haben die Kritiken zu Christian Thielemann recht?
Frische und Überzeugungskraft der Orchesterfarben, über die die Sächsische Staatskapelle bei Busoni verfügte, sind beim Brahms weg. Fragen über Fragen: Wurde in den Proben wirklich an der Phrasierung gearbeitet? Warum spürt man sie nicht, die höchste Anstrengung der Musiker? Was will Thielemann mit Brahms? Ich weiß es nicht. Den letzten Takt des Poco Allegretto drosselt Thielemann ähnlich drastisch wie im letzten Dezember den Schlusstakt des ersten Satzes der Beethoven-Achten. Simon Rattle ist am Satzende zuweilen auch ein Drossler – ein Drossler, aber keine Drossel – (Neunte Beethoven, erster Satz), aber nicht in diesem Maße. Thielemanns Tempo ist zügig, im dritten und vierten Satz sogar flott, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht.
Ein langweiliger Brahms. Thielemann lässt das Orchester so spielen, wie es am liebsten spielt. Wenn ich mich nicht täusche, war das schon das Problem, als Thielemann mit den Wiener Philharmonikern letzten Winter in Berlin war.