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Festtage 2010 Eugen Onegin Daniel Barenboim Achim Freyer Anna Samuil Artur Rucinski Rolando Villazón Maria Gortsevskaya Margarita Nekrasova Stephan Rügamer
Was macht Villazón? Ich hörte Villazón mit gemischten Gefühlen. Bei ‚Ja ljublju was‘ gibt es jedes Mal einen kleinen Stimmriss im ersten Vokal, weitere Wackelstellen folgen. Schnell ist klar: Der Tenor schont seine Stimme, wo es nur geht. Oft singt Villazón den Phrasenhöhepunkt nicht voll aus, ein oder zwei Mal ist das OK, aber vier oder fünf Mal ist schon ein bissl viel. Dazu kommt, dass seine Phrasierung nie die ebenste war, was früher durch die Vehemenz des Vortrags wettgemacht wurde, nun aber beim Singen auf Sicht umso mehr auffällt. Auch die nicht mustergültig verblendeten Register sind besonders hörbar. Arien- und Phrasenschlüsse legt Villazón sehr emotional hin, fast scheint es, als wollte er da rausholen, was der Zustand der Stimme ihm an Intensität versagte. Die Höhe ist eng, doch von intensiver Strahlkraft. Das atemberaubend intensive Drauflossingen, einst Villazóns unfehlbares Markenzeichen, ist 2010 passé, Villazón bereitet sich mit fast umständlich anmutender Sorgfalt auf jede Stimmentfaltung in der Höhe vor. Einzelnes trifft mit Villazón mit höchster Schönheit, das betörende Timbre ist noch da, ebenso der Thrill der (enger gewordenen) Spitzentöne. Doch es ist aufs Höchste nervenaufreibend, dass Villazón womöglich fünf Sekunden vor einer Stelle nicht weiß, wie er sie singen wird, ob mit voller oder gedrosselter Dynamik. Der Gesamteindruck ist unzweifelhaft der, dass Rolando Villazón so etwas in der Art seines Berliner Don Josés (was war das für eine Vorstellung des Jahrzehnts, damals, 2006) nicht mehr hinbekommt. Das ist vorbei, wenn auch die exzeptionelle Stimmschönheit weiterhin außer Frage steht. Das Publikum zeigt sich kulant, was die Defizite angeht, doch es gibt keine Bravostürme. Rolando Villazón wünscht man weiterhin viel Ruhe. Mein Gott, was für eine Wuschelfrisur trägt er. Bei der Premiere vor eineinhalb Jahren war ich der Auffassung, dass Villazón eine Perücke trägt, heute waren seine Haare garantiert echt.
Anna Samuil ist so geschminkt, dass ich ständig denke, sie sehe mich an. Merkwürdig, dass sie im russischen Repertoire weniger durchschlagend ist wie in Don Giovanni oder Lohengrin. Rucinski war ein eleganter, energischer Eugen Onegin, dem mehr stimmlicher Charakter gut getan hätte. Es fiel das sehr gute Artikulationsniveau der mehrheitlich mit Russen oder Slawen besetzten Vorstellung auf, von Rolando Villazón abgesehen, der wohl nie annähernd flüssiges Russisch singen wird.
Verwundert wackelte ich mit den Ohren. Barenboim dirigierte die Premiere im vorletzten Herbst kraftstrotzend und lyrisch intensiv. Nun ist alles langsamer, stiller, bedeutsamer, klarer. Entweder hat Barenboim nun doch die Liebe zu Achim Freyers unsinnlichem Eugen Onegin entdeckt, oder Barenboim wollte Villazón den Rücken frei halten. Motive, Bewegungen, Rufe der Instrumentensoli – das alles spielt die Staatskapelle wunderlich vereinzelt, höchst bewusst, fast wie bei Berg oder Webern: jeder Schlenker ein Roman. Kein Orchester einer Opernaufführung, die ich in den letzten Jahren hörte, drückte so viel Einsamkeit aus.
Es war Achim Freyer, der 2008 diesen Eugen Onegin als Spektakel der Langeweile auf die Staatsopernbühne brachte. Freyer drückte Tschaikowskijs lyrische Oper durch das Sieb der Abstraktion. Der Zuschauer sieht also einen ausgequetschten, will sagen auf die Grundbegriffe reduzierten Onegin. Die Grundbegriffe lauten bei Freyer: Vereinzelung, Ausweglosigkeit. Das Bittersüße von Tschaikowskijs Meisterwerk macht Freyer mit Akribie und Nachdruck zur bitteren Pille. Gut: Freyer zeigt die Gefühlskälte als Grund aller russischen Schwermut. Anhand eines eingefrorenen Gestenrepertoires und variierender Gestenrepetitionen. Eugen Onegin hält den Arm waagrecht. Lenski kniet oder breitet die Arme aus. Tatjana umarmt einen Stuhl oder zieht einen gedachten Schleier vom Gesicht. Olga (Maria Gortsevskaya) joggt auf der Stelle. Die herausfordernde Neuheit der Inszenierung scheint nun in der zweiten Aufführungsserie gemildert. Stellenweise etwas zäh (erster Akt, Opernschluss), doch auch schlagend (nach dem Duell, während des Balls). Von Angela Merkel, die zugegen war, habe ich keine Nasenspitze gesehen. Der Untertitel des Eugen Onegin könnte übrigens lauten: vom Backfisch zur Fürstin.