Nee, so was. Auf den Berliner Opernbühnen ist von Anna Netrebko zur Zeit weit und breit nichts zu sehen. In Wien singt Netrebko dem Eindruck nach eher vierzig als zwanzig Mal pro Saison. Ihre Manon an der Berliner Staatsoper ist nun drei Jahre und ihre Traviata an der Deutschen Oper auch schon ein Weilchen her. Wie dem auch sei. Ich weiß nicht genau, wer gesagt hat, dass Netrebko in drei Jahren die Traviata an der Staatsoper Unter den Linden singen wird, aber in drei Jahren fließt viel Wasser die Spree hinunter.
Doch Netrebko kommt zu den Festtagen der Staatsoper Berlin und singt einen Liederabend. Daniel Barenboim will für die letzten Festtage in der Staatsoper vor der Renovierung Festtage auf Salzburger Niveau, und da lotst er nicht nur Rolando Villazón und Plácido Domingo (na, der war dann ja leider im Krankenhaus) in die Staatsoper, sondern auch Maurizio Pollini und Anna Netrebko in die Philharmonie. Anna Netrebkos singt russische Lieder, Daniel Barenboim klimpert. Barenboim führt Netrebko händchenhaltend aufs Podium, hebt die Rockschöße, setzt sich mit Schwung ans Klavier und lässt Netrebko Tschaikowsky und Rimsky-Korsakow singen. Wie sieht sie aus? Hellblaues Kleid, eine Farbe wie von einem Frauenkleid auf einem Gemälde von Feuerbach aus der Alten Nationalgalerie aus den 1860ern. Anna Netrebko ist nicht gerade ein Flummi wie Cecilia Bartoli, aber eine gewisse weibliche Reife hat sich ihrer bemächtigt. Ein Schelm, wer dabei an Töpfe voller Borschtsch und Haufen von Piroggen denkt. Bewegt sie sich, weht die Zuschauer so ein Hauch barocke Würde an. Barenboim wollte wohl nur Tschaikowsky im Programm haben, Netrebko auch Rimsky-Korsakow, so piffen es jedenfalls die Berliner Spatzen von den Dächern. Wie singt Frau Netrebko? Anna Netrebko ist keine Nachtigall, sie ist zehn Nachtigallen. Aber sie trällert nicht, sie singt. Was einen umhaut, ist erstens Netrebkos technische Perfektion. Legato und Portamento, Crescendo und Decrescendo, Akzente und Morendo werden von ihr schlichtweg perfekt hingelegt. Zweitens die makellose Gesundheit ihrer Stimme. Da hörst du kein Kratzen, nichts Raues, nichts Hingedrücktes, da wird nicht gemogelt, nichts. Ich habe schon viele Stimmen gehört, aber so eine noch nicht. Wahrscheinlich könnten weder ein paar Whiskeys noch eine Nordpolarexpedition Netrebkos Stimme gefährden. Die Stimme erinnert an diese holländischen Stillleben, wo alles vor Üppigkeit strotzt, angefangen beim glänzenden Fischbauch bis hin zum gigantischen Blumenbouquet. Selbst der kleinste Ton verströmt einen Wohllaut von solidester metallischer Pracht.
Dicker Applaus. Das Publikum ist gar nicht so schlecht, wie man bei einem Netrebko-Konzert hätte vermuten können. Barenboim, ganz argentinischer Gaucho, küsst die Hand. Beide watscheln etwas zu zeremoniell ins Künstlerzimmer. Es gibt die üblichen Mätzchen, wie immer wenn in der Philharmonie das Fernsehen mit dabei ist. Leuchtstrahler, Streiflicht und, das übelste aller Übel, aufgedimmtes Licht beim Applaus. Zwischendurch kommt es sogar zu einer kleinen Ansprache von Anna Netrebko ans Publikum, in gutem Deutsch übrigens. Wahrscheinlich war ihr Vater bei der Roten Armee.
Netrebkos Stimme besitzt einen enormen Umfang, das Timbre ist dunkel. Die Stimme wirkt instrumental, aber nicht sehr eigentümlich oder charakteristisch. Ihr Ton ist kühl, aber vielschichtig, er fährt als leuchtender Strahl aus ihrem Mund. Die schiere Schönheit der Aufschwünge klingt bei Tschaikowsky für strenge Berliner Ohren etwas, naja, nicht deplatziert, aber nicht ganz stilsicher. Mit solchen Aufschwüngen gesungen, dürften Puccini oder Richard Strauss unter Netrebkos Obhut abgehen wie eine Rakete. Manchmal denke ich, dass sich Netrebko genau so anhört, wie die Berliner Philharmoniker, wenn diese Richard Strauss spielen. Von Pierre Boulez, dem Programmschwerpunkt der Festtage 2010, singt sie nichts. Das soll aber keine Kritik an Netrebko sein, hehe.
Und doch ist es so eine Sache mit den Liedern, die Anna Netrebko singt. Und damit bin ich doch bei der Kritik. Anna Netrebko fehlt der Klang des Schmerzes. Klanglich läuft es bei ihr auf Hochtouren, emotional, naja, nicht gerade auf Autopilot, aber sie schöpft da auch nicht aus dem Vollen. Sie behält die Geheimnisse ihrer Stimme für sich. Es fehlt a bissl das Gefühl fürs Intime und Unaussprechbare, fürs Idiomatische. Der Tendenz nach passt sie zu Renata Tebaldi (makellose Stimmschönheit, etwas unpersönliches Timbre), weniger zu Maria Callas (Pathos, aufgekratzte Leidenschaft, Timbre einer Bohrmaschine) hat. Christine Schäfer singt intelligenter, Cecilia Bartoli italienischer, beide sind zweifelsohne zehn Mal bessere Liedinterpretinnen. Die große Maria Guleghina singt dramatischer, Magdalena Kozena berührender, Waltraud Meier intensiver. Klanglich-darstellerisch könnte man die Sängerinnen folgendermaßen charakterisieren. Schäfer: Seismograph. Bartoli: Vulkan. Guleghina: Sirene. Kozena: Gedicht. Meier: Rasiermesser. Netrebko: Großraumflugzeug oder Nachtigall, je nach dem. Und Eleganz ist Netrebkos Sache auch nicht so richtig, dazu fehlen die schlanke Linie, das federnde Rhythmusgefühl. Aber nichtsdestotrotz eine Bombenstimme.
Frau Netrebko ist eine äußerst gewissenhafte Verwalterin ihres Glücks. Sie ist ein lyrischer Mezzosopran, der meist nach Sopran klingt. Sie singt, was sie kann. Punkt. Das sind – repräsentative Auswahl – Donna Anna, Mimi, Adina, Massenets Manon, Traviata, Gounods Juliette, Lucia, die Hauptrolle in I Puritani und Anna Bolena, Gilda aus Rigoletto, einiges Russisches von Glinka und Prokofjew, sowie Lieder. Tatjana aus Eugen Onegin ist noch nichts für sie, sagt sie, Elsa aus Lohengrin macht sie vielleicht, und zwar in Bayreuth („Grundsätzlich bin ich Wagnerianerin“), wenn die Wiener Blätter richtig rauschen, was sie ja hin und wieder tun. Die Partien, die für schwerere Stimmen gemacht sind, macht sie nicht. Die Dame hat Disziplin. Hätte Rolando Villazón nur etwas weniger Wuschelhaare und dafür etwas mehr von dieser Disziplin.
Ihre Zugaben: Dvorak und Strauss.
Strauss war glänzend. Das Beste an diesem Abend. Ein Traum. Also für einen Abend mit Strauss-Liedern, gesungen von Netrebkos Organ, würde ich einiges geben.
Netrebko besitzt jene ehrlich-professionelle Herzlichkeit, die man von Anne-Sophie Mutter kennt. Alle klatschen, sie lächelt strahlend. Das viel gerühmte Erotische an Netrebko hat sich nicht recht eingestellt, aber hier mögen die Geschmäcker – und Gelegenheiten – verschieden sein.
Viel Hamburger Akzent in den Foyers. Warum reagiert man immer gereizt, wenn man Hamburgerisch in Berlin hört?
Eine Stimme diesen Kalibers gibt es nur alle drei Jahrzehnte, von daher einen langen Applaus von mir für Frau Netrebko.
Anna Netrebko Kritik Berlin