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Wiener Philharmoniker Christian Thielemann Beethoven Sämtliche Sinfonien
Die Philharmonie Berlin ist eine Stätte verfeinerter Musikliebe. Die Musik wird hier mit einer unpathetischen Liebe geliebt, die anderswo nicht Liebe, sondern Nörgelei genannt wird. Jetzt sind die Wiener Philharmoniker da, und was man auf den Gängen hört, ist „Die können ja ooch jans jut spielen“. Das Ooch bezieht sich auf die Berliner Philharmoniker, das Jans Jut auf die gar nicht so schlechten Geigen sowie die ganz guten Holzbläser der Wiener. Aber es dauerte nicht lange, da schnappte man im Vorbeigehen den ersten Kommentar auf, der lautete: „Die Berliner sind aber schon a bissl besser.“ Ach ja, wie gut ist es, dass die Wiener gerade jetzt kommen. Just begann eine Flaute im Musikleben der Hauptstadt zu herrschen. Die Berliner Philharmoniker erholen sich noch von den Strapazen einer Konzertreise. Daniel Barenboim und Simon Rattle befinden sich außerhalb der Stadtgrenzen Berlins, und die Berliner Opernhäuser geben dem vorweihnachtlichen Verlangen des Publikums nach Stoffen nach, die zum Herzen sprechen.
Als Musikliebhaber hat man das komplette Abonnement gekauft und sich im Zuge dessen entschlossen, die Weihnachtsgeschenke dieses Jahr eine Nummer kleiner ausfallen zu lassen. So sitze ich an drei bitterkalten Dezemberabenden und einem wärmeren Dezembervormittag im Block G, zähle die Frauen im Orchester, schaue Christian Thielemann beim Dirigieren zu, nehme in der Pause einen Imbiss ein und höre in der Zwischenzeit den Wiener Philharmonikern zu. Es sind übrigens sechs Frauen. Drei bei den ersten Geigen, zwei bei den Bratschen, eine bei den Celli.
Es gibt solche Orchester, und es gibt solche. Die Berliner Philharmoniker wie auch die Wiener Philharmoniker gehören zur ersten Kategorie, die meisten anderen zur zweiten. Ich rede nicht um den heißen Brei herum. Die Zweite, Sechste, Achte und Neunte waren größtenteils exzellent. Die Erste, Vierte, Siebte und Fünfte enttäuschten mehr oder minder. Bei der Dritten bin ich mir unsicher. Die Vierte fing schleppend langsam an, der Fünften fehlte das Drama, der Wert der Siebten wurde durch ein stampfendes Finale gemindert.
Die Pluspunkte. Zuallererst die Bläser. Sie klingen runder, voller als die Berliner Bläser (die ihrerseits schlanker, pointierender sind). Die Hörner sind eine Freude, da haut es einen fast um, trotz der regelmäßigen Kiekser (Achte, Trio; Neunte, Adagio, Dritte mehrmals). Spielen zwei Solohörner zusammen, ist es atemberaubend schön (Achte, Trio; Fünfte, Finale). Auch zwei Hörner plus zwei Trompeten (Achte, Finale) klingen ausnehmend schön. Einige Klangwirkungen der beiden Solohörner frappierten durch nie gehörte Eigentümlichkeit des Klangs. Es war höchst lehrreich, Hörner und Trompeten in den Schlusstakten der Fünften und der Egmont-Ouvertüre wie ein Rennpferd mit Leichtigkeit und Kraft über das gesamte Orchester setzen zu hören. Zweitens: Die Wiener Streicher sind eben die Wiener Streicher. Sie schlingern, sie nuscheln, sie busseln, sie lassen auch mal Fünfe gerade sein, ohne sich jemals zu verzählen. Die Wiener Bässe sind schwärzer als die Berliner. Und sie haben mehr Melodie. Drittens der Orchesterklang. Wie bekannt, kochen die Wiener Philharmoniker ihr eigenes Supperl. Er ist verführerisch leicht, irgendwie wolkig, von zärtlich durchtriebener Vielschichtigkeit und auf jeden Fall seeehhr besonders. Man könnte auch von einer weltweit einmaligen Verbindung von Perfektion und schlawinerhafter Schludrigkeit sprechen. Und es gibt tatsächlich diese wunderbaren Stellen, an denen Bläser und Streicher unterschiedliche Tempi verfolgen, sich für einige Momente voneinander entfernen, um im nächsten wieder glücklich zusammenzufinden (Finale Fünfte). Ich denk, ich spinn, wenn ich das höre. Hanslick sprach von diesem Phänomen schon einmal anlässlich einer Besprechung eines Wiener Konzerts in den 1860er Jahren, wenn ich das jetzt richtig im Kopf habe.
Die Mankos. Erstens: Die Streicher neigen zum Verkünsteln. Im Finale der Achten lichten sich die Nebel um die Triolen des Themenkopfes aufgrund Nuschelns je weiter der Satz fortschreitet umso weniger. Zweitens: Weichzeichnung und Üppigkeit im Detail lockern den Zusammenhang über Gebühr. Da ist dann zu wenig Drama, zu wenig Sonatenform. Besonders die typisch intensiven Finali (Zweite, Fünfte, Siebte) leiden darunter.
Zum Programm wurde nur Beethoven zugelassen. Keine nicht-Beethovensche Note sollte die Konzentration stören. Mir wurde berichtet, dass einige Konzertbesucher schon Wochen vor dem Beethoven-Zyklus der Wiener Philharmoniker nur noch von Beethoven, und zwar in allen Formen: jung, alt, taub, tot, geträumt haben. Aus Charlottenburger Mietwohnungen ertönten Abende lang nur die Sinfonien des Meisters. Mehr davon demnächst.