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Berliner Philharmoniker – Simon Rattle/Wynton Marsalis Strawinsky Petruschka Marsalis Swing Symphony

Die Saison röchelt, sie hat ein Alter erreicht, in dem alles möglich ist. Die Sonne brennt, die Philharmonie glüht. Der Schweiß hängt in den Socken, das Hemd klebt an der Lehne.

Petruschka in der 1947er-Fassung wirkt genau wie von 1947. Der expressionistische Jugendstil der Vorkriegsfassung wirkt wie mit Webernschem Glas überzogen. Daher die Schärfe und Kontur dieser Aufführung. Wenn ich mich recht erinnere, ist Rattles hartschattiger, hochkonzentrierter Petruschka dem Mariss Jansons‘ von – na wann war das wohl? – 2007 vorzuziehen. Dieser legte mehr Wert auf raffinierte Folklore und raffinierten Impressionismus, jener – der Rattles – wirkte integraler, verschlossener wie auch ergiebiger im Detail.

In der Pause steht Wynton Marsalis mit Hosenträgern und weißem Hemd auf der Terrasse Richtung Tiergarten. Er hält ein Bier in der Hand. Er schaut mich an während er das Gespräch mit seinem Gegenüber fortsetzt. Will er mich zu unbedingter Konzentration auffordern? Oder möchte er ein Gespräch über Berlins Taxis anknüpfen?

Profilkopf, England, Anfang 21. Jhdt. Besonderheiten: sehr lockig, verhaltenes Grinsen // Foto: Sheila Rock / simon-rattle.de

Esko Laine ist heute erster Bassist. Kelly statt Mayer, Pahud flötet, Wenzel Fuchs nicht da, stattdessen der Dunkelhaarige, dem die Lionel-Messi-hafte Geläufigkeit von Fuchs‘ Klarinette noch etwas abgeht. Eine Dame (volumenmäßig in der Mitte zwischen Solène Kermarrec und Pavarotti) am Solohorn – die potentielle Baborák-Nachfolge? Wie konnte der Baborák auch. Einfach fort und davon.

Ja, warum bin ich in dieses Konzert gegangen? Erstens wegen Rattle. Zweitens wegen Strawinsky. Drittens, weil meine Frau wollte. Vielleicht war die Reihenfolge auch andersherum. Am Ende des Konzerts muss ich gestehen, dass Wynton Marsalis‘ Swing Symphony, in der Philharmoniker und Marsalis‘ Orchester zusammen spielen, glänzende Stellen hat. Allein wegen des Trompetenquartetts (u.a. mit Wynton Marsalis) lohnte sich der Abend. Marsalis‘ Trompete hat einen Ton, der an das Blöken erinnert, das aus dem rauen Hals einer gigantischen Kuh kommt. Bei der Zugabe kauert Rattle hinter dem Klavier, das Bein eines Philharmonikers rechts von ihm und ein Notenpultständer links von ihm. Bei Brahms dürfen die Streicher nie so geistreich und kultiviert schwelgen, bei Marsalis rümpft niemand die Nase, wenn sie es tun. Dies galt besonders für Bässe und Celli, die mit wirklich meisterhafter Kurvenführung glänzten. Auch nicht schlecht: Endlich mal wieder ein Stück, bei dem Konzertbesucher den Saal verlassen. Ich hätte der Partitur, soweit sie das klassische Orchester betraf, ernsthafte Virtuosität gewünscht, mehr Ligeti. Rattle dirigierte gut gelaunt über Marsalis‘ Orchester hinweg, mit dem ihm typischen Einsatz. Es hatte schon was, Marsalis‘ Jungs von dichten Philharmoniker-Reihen eingekesselt zu sehen. Der lange, sehr junge Posaunist aus Marsalis‘ Orchester, der die krächzenden Soli spielte, blickte mit dem Hochmut und der Verständnislosigkeit eines Jaguars auf die Masse an ihn umrahmenden Philharmonikern, die ihm vorgekommen sein müssen wie kuriose hüftsteife Zebras. So, morgen noch Anne-Sophie Mutter, gewissermaßen auch ein hochmütiger Jaguar, wie er im Buche steht, dann darf die Saison sich in aller Ruhe ausröcheln.