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Berliner Philharmoniker – Simon Rattle: Mitsuko Uchida Barbara Hannigan Ligeti Athmospères Beethoven Klavierkonzert Nr. 1 Ligeti Mysteries of the Macabre Sibelius Sinfonie Nr. 1
Im Berlin, das in Schnee und Eis versinkt, weisen Pfützen in LKW-Größe an jeder Straßenecke auf den nahenden Frühling hin. Die Philharmoniker tun ihr Bestes, um den Winter zu vertreiben, indem sie kecke Erstlingswerke von Beethoven und Sibelius, dem zeitweise meistgehassten Musiker Europas, spielen.
Das Orchester ist bester Laune. Rattle beginnt sofort nach dem Konzertschluss auf das Lebhafteste mit Uchida zu reden. Dabei sieht Uchida einmal so freudig überrascht aus, als hätte Rattle ihr gerade vorgeschlagen, AUSNAHMSWEISE und NUR DIESES EINE MAL bei Sibelius mitspielen zu dürfen – weil sie es sei. Albrecht Mayer, Emmanuel Pahud, Wenzel Fuchs, Stefan Schweigert, das waren die ersten Solisten der Bläser. Daishin Kashimoto Konzertmeister (musste ich nachschlagen), Stabrawa neben ihm. McDonald ragt an den Bässen auf. Pahud sieht dem Nachbarn Mayer aus nächster Nähe beim Solo zu. Nickt dann ausdrucksvoll. Nickt auch nach Einsätzen anderer. Schweigert guckt einmal zum zweiten Fagottisten, Pahud dreht sich um, guckt auch hin. Hat er was falsch gemacht? So was hört man nicht. Bei Beethoven Leichtigkeit und magere Sehnenhaftigkeit, bei Ligeti höchste Reaktionsfähigkeit des Orchesters. Ligetis Mysteries of the Macabre ist große, herrlich vitale Musik. Rattle nutzt die Kraft und Fantasie dieser Musik, um aus sich herauszugehen, und hat sein Coming-Out als fuchtelnder Orchesterleiter, der Orchester und Publikum zur Schnecke macht (‚What the hell are you playing there?‘, ‚Don’t smile at me‘).
Besetzung Beethoven: Streicher 9,9,6,5,3, Bläser doppelt bis auf die einfache Flöte. Beethovens Erstes ist ein keckes Beserl. Mitsuko Uchida trägt ein hauchdünnes Chiffonstückchen, das sie vor ihrem Einsatz auf den Boden gleiten lässt. Darunter ein goldglänzendes Oberteil. Eine Hose wie ein Windhauch, in Burgund. Springt die vier Stufen zum Podium hinauf und hinunter wie eine Elfe – Rattle springt auch hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend, beim Hinablaufen achtet er auf die Stufen – Uchida nicht.
Die Bläser selten besser gehört. Pahud mit der kurzen, unscheinbaren, angeschlenzten Figur im letzten Beethovensatz. Unvergesslich. Pahud und Jelka Weber mit der Auf-und-Ab-Figur im letzten Sibelius-Satz. Wenzel Fuchs mit äußerstem PP zu Beginn Sibelius. Unbegreiflich lebendiger, differenzierter Holzbläserchor. Keine Note wird unter den Tisch fallen gelassen.
Uchida spielt eine Solokadenz, die an Umfang jede zuvor gehörte Kadenz bei Weitem übertrifft. Ist sie von Beethoven oder Uchida?
Rattle geht im ersten Sibelius-Satz die weiße Leibbinde auf. Versucht in der Satzpause, die Enden zusammenzuknoten. Schafft es nicht. Geht vom Podest. Ich denke kurz, er will sich die Binde vom Konzertmeister knoten lassen. Aber er will dabei nur nicht auf dem Podest stehen. Bekommt es hin. „Too much work“, ins Publikum gesagt (oder etwas Ähnliches). Gelächter. Die Sibeliussinfonie war von einem überbordenden Reichtum, einer überschüssigen Kraft, einer Lust an der Musik, die auch unter Rattle nicht alltäglich sind. Man meinte für Sekunden, Rattle forderte mehr, als das Orchester geben kann. Eine der ganz großen Leistungen.
Ausnahmsweise habe ich das Konzert zwei Mal gehört. Am Donnerstag schien das Orchester außer Rand und Band. Am Mittwoch kontrollierter. Am Donnerstag war das Andante der Höhepunkt. Am Mittwoch erst das Finale. Am Donnerstag: glücklich erschöpft. Am Mittwoch: Hunger auf mehr.
Es macht einen Heidenspaß, die Kernstücke des vergangenen Jahrhunderts mit den Berliner Philharmonikern zu hören. Vor zwei Jahren Webern, letztes Jahr Zimmermann und Schönberg, dieses Jahr Kurtág und Ligeti. Wann dirigiert Rattle mehr Alban Berg? Prokofjew? Etwa die Zweite, Dritte oder Sechste?