Ist Written on Skin die neue „beste zeitgenössische Oper“? Das Werk in drei Teilen und fünfzehn Szenen wurde 2012 in Aix-en-Provence uraufgeführt. Komponist ist George Benjamin. Schon in tout Europe – Wien, Florenz, München, London, Paris – war die Oper zu hören.
Nun also in der Berliner Philharmonie. Was hat es mit dem Erfolgsstück auf sich?
Die mittelalterliche Geschichte um Liebe, Eifersucht und Rache entfaltet sich stringent bis zum tödlichen Ende und wird in überzeitliche Zusammenhänge eingebettet. Ein zynischer Landlord, seine junge Frau, drei Engel, ein zweites, niederes Paar und ein junger Buchillustrator stellen das singende Personal.
Die Musik ist hochattraktiv, aber speziell. Sie öffnet sich in lichten, sorgsam ausgehörten Klangbildern, immer hart an der Grenze zum – je nach Perspektive – Esoterischen oder Kitschigen. Die Orchesterbehandlung ist von raffinierter Einfachheit. In diesem delikaten Setting entfaltet sich ein vorsichtig expressives Schönsingen. Das kommt einmal hochartifiziell und dann wieder verblüffend sprachnah daher. Meist hört man kontemplative Monologe und Dialoge, nur punktuell verdichten sich die Stimmen zu Duetten oder Terzetten. So entsteht ein transzendentes und transparentes Gewebe, das Benjamin mit hoher Kunstfertigkeit strickt wie einen dünnen Haute-Couture-Pulli aus einer exquisiten Modeschmiede. Davon heben sich die seltenen Orchesterhöhepunkte wirkungsvoll als scharf konturierte Ausbrüche ab. Nur die mittelalterlichen Idiome nach den Szenen 4 und 5 sind so-là-là.
Ob Written on Skin langfristig im rauen, schmutzigen Opernalltag überlebt? Die sensationsaffine, krude Handlung (die Frau verspeist schlussendlich das Herz ihres getöteten Geliebten) spricht dafür, die blutleere Handlung spricht dagegen. Denn Written on skin wirkt wie eine Kreuzung aus Pelléas et Mélisande und Matthäuspassion. Und damit wären wir beim Libretto. Der enigmatische Text (Libretto Peter Crimp) ist eine Mixtur aus Neo-Nazarenertum und schwerstem Paulo-Coelho-Kitsch. Moderne Einsprengsel (Saturday car park, cancel all flights) machen die Sache nicht besser. Etwas befremdlich ist das Sprechen von sich in der dritten Person. Ist diese mittelalterliche Sex-&-Crime-Parabel mit ihren ledernen Platitüden Repertoire-tauglich? Vielleicht traut sich eines der Berliner Häuser. Dann ließe sich die Probe aufs Exempel machen.
Bassbariton Evan Hughes (Protector) zeichnet ein wohlklingendes Porträt eines grausamen Machtmenschen und singt mit schöner Einfühlung in Szene 12. Georgia Jarman (Agnès) produziert exquisite Superhochtöne. Für die geforderten Höhenflüge bringt sie feinzeichnende Koloraturfähigkeiten mit. Im unteren Bereich ist die Stimme flacher. Countertenor Bejun Mehta (doppelbesetzt als Boy und Angel 1) singt dank konzentrierter und makellos intensiver Stimme umwerfend gut. Die lichte Intensität des Singens geht unter die Haut. So geht Jenseits-Flair. Auch Victoria Simmonds (als Mary und Angel 2) liefert knackige Top-Noten und eine genaue Deklamation und kann obendrein gut fauchen (Not those – the red ones!, nämlich die Schuhe). Robert Murray (John und Angel 3) komplettiert mit flexibelfester Tenorstimme das gute Ensemble, das durchweg erfreulich textgenau singt.
Der Komponist dirigiert das von Claudio Abbado gegründete Mahler Chamber Orchestra, das zu kostbarem Leisespiel fähig ist und sich überhaupt als ein in allen Belangen erstaunlich erstklassiges Ensemble präsentiert. Genauigkeit, Hingabe, Phrasierung, Gruppenkoordination sind zum Zungeschnalzen. Benjamin leitet sachlich und genau, mit sparsamsten Gesten.
Fazit: Als erlaucht instrumentierte Parabel in konzertanter Verpackung ist Written on Skin ein eindringliches Erlebnis. Fragt sich nur, ob George Benjamins Mittelalter-Oper auch auf der Opernbühne dauerhaft zu faszinieren vermag.
Mist, wenn ich das lese, wär ich doch gern hingegangen. War von George Benjamin beim Musikfest recht ernüchtert, v.a. von der Vorgänger-Oper „Into the Little Hill“, für mich professionell-beliebig. Das Libretto, auch von Martin(!) Crimp, fand ich ebenfalls schwach.
Zeitgenössische Werke an unseren Berliner Opernhäusern sind leider so eine Sache, v.a. auf der großen Bühne. Ein Erfolgsstück wie „Written on skin“ müsste doch auch in Berlin laufen. Die Deutsche Oper macht im Frühjahr eine UA von Detlev Glanert, da erwarte ich nichts Gutes. Aber mal hören.
Was in 100 Jahren geblieben sein wird und was vergessen, ich glaube, wir würden staunen. Ein Bekannter von mir sagte, Spahlinger wird man in 100 Jahren spielen, Benjamin nicht.
Immerhin hat Benjamin ja die Residence, auch wenn die gastgebenden Berliner Philharmoniker (sozusagen die große Bühne der Residenz) sich mit ihrem Gast vornehm zurückhalten.
https://www.berliner-philharmoniker.de/titelgeschichten/20182019/composer-in-residence-20182019/
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Eigentlich fand ich die Orchesterbehandlung und das Mahler Chamber Orchestra fast interessanter als den sängereschen Teil.
Ah, die „Stipendiaten der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker“. Da wollte ich auch immer mal hin. Das sind doch schöne Programme.
Von Glanert habe ich Theatrum bestiarum (musste den genauen Titel nachsehen) in guter Erinnerung, mit den Philharmonikern vor einigen Jahren, laut und komplex.
Vielleicht überrascht der Widmann ja endlich mal, UA Staatsoper, wobei man skeptisch werden darf, wenn ein „klanglich-opulentes Kaleidoskop“ angekündigt wird.
https://www.staatsoper-berlin.de/de/veranstaltungen/babylon.2626/
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Widmanns „Babylon“ gabs mal auszugsweise im DSO-Kinderkonzert, da wars prima…
Hoffentlich bringt die Staatsoper wenigstens diese Kurtág-Oper nach Berlin.
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„Eine Oper in Cinemascope“, aarrggh. Babylon ist aber keine UA, es sei denn, man nennt jede Überarbeitung wieder UA. Ein Thema für sich, diese Usance. Sloterdijk-Libretto und Kriegenburg-Inszenierung, mir schwant Schlimmes.
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