2017 Staatsoper Berlin La Bohème Puccini
Weihnachten im Quartier Latin: Che chiasso! Quanta folla! / Foto: Monika Rittershaus

Eine Bohème an der Staatsoper Unter den Linden in glänzender Besetzung.

(Hier Kritik der Aufführung mit Elena Stikhina und Vincenzo Costanzo vom Januar 2018 lesen.)

Tenor Piotr Beczala und Sopran Angela Gheorghiu singen in Lindy Humes bewährter Inszenierung, die die Handlung aus dem Paris von 1830 ins Jahr 1900 verlegt und bei der pittoresken Milieuschilderung einen Mittelweg einschlägt: nicht zu viel Klischee und nicht zu wenig Gefühl.

Angela Gheorghiu präsentiert – wer hätte etwas anderes erwartet? – eine Mimì, die auch kokett, ja leidenschaftlich ist. Wie Gheorghiu singt, lässt kaum Wünsche offen. Ihre Stimme ist nicht zu groß, doch immer noch wunderbar konzentriert im Ton, voller magischer Pianissimi und kommt ohne verismohaftes Tosca-Röhren aus.

Gheorghiu ist ja doch eher ein  lyrisch-dramatischer Sopran. Ihre Stimme produziert Linien von weicher, schwebender Leuchtkraft. Frau Gheorghiu singt elegant und anrührend. Die Intonation ist sicher. Die Schönheit der Stimme überwiegt etwas deren Ausdruckswert. Si, mi chiamano Mimì (Akt I, da beginnen die ersten Herzen zu schmelzen) singt die Rumänin auffallend leise. Im zweiten, im dritten Akt wird sie immer besser.

Piotr Beczala hingegen spielt einen zurückhaltenden Rodolfo – dieser Poet studiert wahrscheinlich nebenher Betriebswirtschaft. Auch die Arie Che gelida manina klingt zunächst zurückhaltend. Beczala singt sorgfältig und sauber, dynamisch (bis auf wenige Stellen) sehr aufmerksam. Auch Beczala macht im dritten Akt fast wunschlos glücklich. Sein Tenor ist männlich fest und klingt immer noch jugendlich hell. Das obere Register war schon immer etwas enger. Ja, der dritte Akt. Seltener wurde die Verzweiflung aussichtsloser Liebe in der Oper mit mehr Gefühl auf den Punkt gebracht. Rodolfos leichtfertiges Mimì è una civetta (Mimì ist eine Kokette) ist so herzzerreißend grausam (Beczala singt hinreißend) wie sein tödlich ehrliches La povera piccina è condannata (die arme Kleine ist zum Tod verurteilt) wenige Takte später, kurz nachdem der treue Marcello ihn darauf aufmerksam gemacht hat, dass er Blödsinn singt.

Es erstaunt, wie ähnlich Gheorghiu und Beczala ihre Rollen angehen. Beide bieten vorbildliche Piano- und Legato-Kultur und ein schön kontrolliertes, technisch sehr gutes Singen ohne störendes Vibrato. Man bedenke, Gheorghiu ist über 50. Weder Beczala noch Gheorghiu machen ihre melodramatischen Aufschwünge zur Seufzerbrücke: Jede Note wird gesungen, nicht gespielt.

Musetta ist eine temperamentvolle Pariserin und wird von Anna Samuil mit volltönenden Spitzentönen gesungen. Samuil lokalisiert die verführerische Musetta gekonnt im Graubereich zwischen Skandalnudel und Sopransirene. Im zweiten Akt agiert sie als blondes Gift, im dritten als schwarzhaarige Chanteuse, und im Sterbeschmerz des vierten Akts hat sie das Herz am rechten Fleck.

Angela Gheorghiu Staatsoper Berlin La Bohème Mimì
La Bohème: Angela Gheorghiu singt Puccinis Mimì in Berlin

Der Maler Marcello ist bei Alfredo Daza (ein viriler Bohemien im ausgebeulten Anzug mit klanglich und gestisch intensiv geführtem Bariton) in besten Händen. Den Musiker Schaunard singt Gyula Orendt, Philosoph Colline (Grigory Shkarupa) trägt ein rührendes Vecchia zimarra, senti (Alter Mantel, hör) vor, die einzige an einen Mantel gerichtete Arie der Musikgeschichte – übrigens unterlegt mit todtraurigem Humpelrhythmus aus Fagotten und Klarinetten. Andrés Moreno García verkörpert den Spielzeugverkäufer Parpignol, Olaf Bär ist in Akt I der Vermieter auf Freiersfüßen (Benoît) und in Akt II der ältliche Liebhaber (Alcindoro), der den Teufelsbraten Musetta nicht mehr unter Kontrolle hat.

La Bohème, erstmals aufgeführt 1896 in Turin, ist die winterliche Geschichte einer jungen Liebe, in der das Künstlerproletariat sich mit viel Chuzpe und wenig Glück gegen das Schicksal stemmt. In den vier locker gefügten Bildern changiert die Musik unaufhörlich zwischen Al Fresco und gefühlsgeladenen Parlando. Aus diesem betörenden Mix wachsen die Arien wie junge Triebe empor. Die Binnenakte spielen im turbulenten Café Momus und an der frostigen Barrière d’Enfer. Die wie mit einem Pinselstrich hingeworfenen Ensembleszenen und die farbenreiche Instrumentierung lassen La Bohème so jung und frisch im Uraufführungsjahr klingen.

Am Pult der Staatskapelle Berlin steht mit Julien Salemkour ein sicherer und sorgfältiger Leiter, der für ausreichend Schmierseife unter den schwungvollen Ensembles sorgt. Die ganz großen Feinheiten und die ganz großen Gefühle bleiben aber in der Schublade. Etwas schneller wäre besser gewesen und hätte auch den Arien des ersten Akts gut getan. Schade, dass die heutige Opernsituation ausgiebiges Proben nicht mehr vorsieht. Sänger und Dirigent waren recht oft auseinander – nicht viel jeweils, aber dafür sehr häufig.