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Wie jeder anständige Berliner war ich in den vergangenen Tagen mit dem Besuch möglichst vieler Weihnachtsmärkte sowie mit dem Trinken von möglichst viel Glühwein beschäftigt. Das ist jetzt vorbei. Heute ging ich zu den Philharmonikern, teils aus Interesse, teils um gegen das Weihnachtsfest gewappnet zu sein.

Nicola Luisotti, Francis Poulenc und Emmanuel Pahud machten mich neugierig. Nicola Luisotti dirigiert die Berliner mit zusammengeschlagenen Hacken und mit offenkundiger Freude. Luisotti trägt Seitenscheitel, eine Haartolle und leitet die Musiker mit sparsamen, zeichnerischen, von präzisen Stichen akzentuierten Handbewegungen. Daumen und Zeigefinger der Linken formt er unter nachlässiger Abspreizung des kleinen Fingers gerne zu einem O, wenn er „Leutchen, jetzt bitte besonders präzise“ meint. Er steht da wie mit dem Lineal gezogen. Dann streckt er die Linke in Richtung Pauke, der Paukist schlägt einen effektvollen Wirbel, die Rechte wippt aufgeregt im Takt der Streicher, dann kommt das ganze Orchester und Luisotti gestattet sich einen heftigen Verbeuger. Es macht Spaß, Luisotti zuzuschauen. Bei so viel preußisch aufrechter Körperhaltung hätte ich gedacht, er lässt einen die scharfen Linien von Prokofjews Fünfter hören. Stattdessen schien der Wert von Luisottis Dirigat bei der Offenlegung der Beziehungen zwischen den Orchestergruppen zu liegen. Luisotti hat eine Karajansche Hagerkeit. Ich persönlich finde, dass der Dirigent zackiger als nötig dirigiert – und ostentativer als nötig. Ich denke besonders an seine raumfüllenden liegenden Ovale, die er mit der Rechten wie ein Lasso in die Luft zeichnet, sowie die nachdrücklich ein Espressivo nach dem anderen einfordernde zitternde Hand respektive der zitternde Kopf, wobei zumindest die zitternde Hand auch etwas Karajansches hat. Persönlich finde ich auch, dass es in der Fünften zu viel tiefes Blech gibt. Die Posaunisten bekommen kaum Gelegenheit, Luft zu schnappen, und der erste Satz der Fünften wirkt, als hätte er einen dicken Hintern. Vor dreieinhalb Jahren, als Gustavo Dudamel die Fünfte dirigierte, dachte ich, der dicke Hintern der Fünften sei Dudamel geschuldet. Inzwischen denke ich, dass Schwerfälligkeit und Pomp des ersten Satzes auf Prokofjews Mist gewachsen sind. Den turbulenten Satzschlüsse haben den opernhaften, hier angebrachten Pomp Prokofjews.

Das Gloria von Poulenc ist nicht nur einfach bezaubernd, es ist hellsichtig komponiert. Ich wünschte, ich hätte es drei Mal gehört. Seit das Concertgebouworkest hier mal Poulencs Konzert für Orgel und Streicher in Perfektion spielte, hat der Name Poulenc bei mir einen sagenumworbenen Klang. Der Rundfunkchor sang. Eigentlich gehe ich nur noch zu Kompositionen mit Chor, wenn der Rundfunkchor singt. So viel zum Rundfunkchor.

Emmanuel Pahud (Debussys Syrinx, Berios Sequenza I) war groß bei Debussy und am größten bei Berio.

Leah Crocetto (Sopran) sang delikat, üppig (eine gute Kombination), frisch und dramatisch. Manchmal schien ihre Tonhöhe nicht ganz sicher, ich würde meine Hand hierfür jedoch nicht ins Feuer legen. Ihre physischen Massen bändigte ein an einigen Stellen ausladendes, an anderen Stellen einladendes Kleid. Das Kleid identifizierte ich aus 60 Metern Entfernung als ein Christo-Verdosci-Produkt. Frau Crocetto twitterte vor zwei Tagen „Ich erhalte aufregte zur Premiere Abend!!!“, was immer das heißen mag, aber es klingt sympathisch. Am gleichen Tag twitterte sie „My fabulous sister and stylist @crocettojessica will be doing my hair and makeup!“ Ich wusste schon immer, dass Sopranistinnen immer nur an das eine denken. Leah Crocetto war übrigens ein Traum in Rosa, vom Kleid angefangen über die Lippen bis hin zum Rouge der Wangen. Ich kann mir vorstellen, dass ihre Trovatore-Leonora wie ein heißer Gletscher ist, der gerade ins Schlittern kommt. Wehe dem Manrico, der aus regietechnischen Gründen unter ihr zu liegen kommt. Alles in allem ein guter Auftritt.

Die Türmädels waren heute gut gelaunt. Auf der Toilette wurde allenthalben Frohe Weihnachten gewünscht. Ich habe heute 1 Euro aufs Schälchen gelegt, was ich mir nur einmal im Jahr gestatte, bei den Preisen, die die Philharmoniker seit Kurzem verlangen.

Auf die Nennung der Konzertmeister der laut Leah Crocetto „astonishingly gifted Berlin Philharmonic“ verzichte ich heute. Es ist nach Mitternacht, ich muss noch Geschenke einpacken und morgen wird ein harter Tag. Liebe Leser, schöne Weihnachten.

Kritik Nicola Luisotti: gutes Vorweihnachtsprogramm