Musikfest, mmmh. Rechtzeitig klart der Himmel auf. Septembersonne bescheint die Blechwipfel der Philharmonie. Der Tiergarten ist schon kühl. Im Foyer lauter Musikverständige. Sogar die Touristen sehen musikverständig aus.

Was nicht ist, kann ja noch kommen. Das letzte Mal, als ich Pierre-Laurent Aimard hörte, löste Aimard eine seltsame Mischung aus aufrichtiger Achtung und seriöser Langweile in mir aus. Wenn das mal nicht zu snobistisch war. Kaum saß ich an diesem Montagabend auf meinem Platz, kaum startete Aimard die lugubre Gondel, dachte ich, ich höre nicht recht. Glockenklare Töne. Klar umrissene Resonanzen. Kraft, Ernsthaftigkeit, Präzision, Wille. Etwas Debussy-haftes bei Liszt. Klar ist der Kammermusiksaal lauschiger als die Philharmonie. Von den guten Blöcken aus schaut man direkt in den geöffneten Rachen des Flügels und kann in den Pausen Aimards Profil studieren. Pollini ist in der Philharmonie immer ganz schön weit weg.

Das Konzert ist keine drei Minuten alt. Ein Handy klingelt, Aimard erhebt sich abrupt und verschwindet. Beifall des Publikums. Liszts traurige Gondel ist ins Nirvana der Vergangenheit entglitten. Ich erwarte, dass der Handybesitzer sich mit einer Ansprache ans Publikum entschuldigt, aber Pustekuchen. Eineinhalb Minuten später kommt Aimard wieder raus.

Ein sensationelles Programm in Rondostruktur. Liszt = Ritornelle. Dazwischen spielt Aimard Wagner, Berg, Skrijabin. Zumindest Wagner und Skrijabin waren ja Liszt-Liebhaber. Berg wohl nicht. Dass Pierre-Laurent Aimard beim Spiel auch den Hintern anlupfen kann und sein Schopf in alle Richtungen fliegen lässt, war mir bislang unbekannt. Sachlichkeit, aber auch echte Größe, so in den Sekundabgängen, mit denen die h-Moll-Sonate losgeht. Gerade fällt mir ein, dass ich mich an kein einziges Rubato erinnere. Natürlich gab es welche (aber von Rubato-Präsenzen in Kissin-schem Ausmaß ist Aimard weit entfernt). Spitzentöne haben eine gletscherähnliche Härte. Jeder Spitzenton klingt anders, ohne jede Spur von Pathos, wenn auch aufs Äußerste in die Tasten gestochen. Ingenieursethos, gedankliche Schärfe von Brückenbauern. Und doch Leidenschaft eines Künstlers.

Linie? Nee, ist Aimad nicht wichtig. Aimard denkt vom einzelnen Ton aus. Jeder Anschlag ein Kosmos. Haarsträubendes Akkord- und Skalengewusel in der h-Moll-Sonate, aber stets durchdacht, scharf, frisch und klar wie Gletscherwasser. Der Beginn war – noch mal gesagt – ausnehmend schön. Eine Reihe vor mir sitzt ein blutjunger Klavierspieler. Ich erkenne solche Leute auf den ersten Blick. Zurückhaltende Kleidung, weiche Gesichtszüge, Alban-Berg-Blick. Vier Plätze links von mir saß jemand, der bei der h-Moll-Sonate heftig mit dem Kopf wippte.

Salvatore Licitra ist gestorben. Ein Gruß ins Jenseits.

Aimard verbeugt sich jeweils drei Mal. Jedes Mal dreht er sich um genau 120°. Zugabe gibt’s nicht.

Pierre-Laurent Aimard Kritik: sehr gut.