Ein Sonderkonzert jagt das nächste. Nicht immer ist der Anlass ein fröhlicher. Simon Rattle dirigiert den 2. Akt Tristan mit der Staatskapelle, Barenboim spielt zuvor Beethovens Drittes Konzert (nicht hingegangen). Anlass: Das Geld kommt der Renovierung der Staatsoper zugute. Herr Rattle, erinnern Sie sich an das Liedl, das da heißt „Je suis Lazuli“? Wann dirigieren Sie das mal wieder? Und Frau Kozena singt das Liedl? Dann kommt der niederländische Hochadel in Form von Frau Beatrix nach Berlin und aus irgendeinem Grund gibt das Concertgebouworkest Amsterdam hierzu ein Festkonzert. Der Lette Mariss Jansons dirigiert deutschen Brahms und deutschen Mendelssohn – klar, es gibt auch so wenige niederländische Musiker oder Komponisten, mir fällt nur Rudi Carrell ein (ich habe eine Karte). Ich bin für vermehrte Besuche des österreichischen Präsidenten Fischer in Berlin und damit zusammenhängende Festkonzerte der Wiener Philharmoniker. Meinetwegen kann Fischer vierteljährlich kommen. Fischer soll mit Merkel Kaffee trinken und anschließend geht’s ins Festkonzert in die Philharmonie. Da können Sie sogar zu Fuß rüberlaufen, es sei denn, sie sind im Kranzler. Dirigieren können Rattle oder Barenboim, die sind sowieso schon hier. Und, um zur unerbittlichen Wirklichkeit zurückzukehren, es gibt noch ein Benefizkonzert für Japan. Erst dirigiert Barenboim die Staatskapelle, anschließend Rattle die Phillies (überlege noch, es gibt nur noch Karten 50 Euro aufwärts).

Ach ja, Murray Perahia war da. Die Philharmonie fast ausverkauft, hätte ich gar nicht gedacht. Nach Sokolov (s.u.) war Perahia eine Wohltat. Perahias Bach war nicht zum Gähnen, sein Schumann wahr und ergreifend, sein Chopin im besten Sinne solide – für schockierendere Chopin-Erlebnisse ziehe ich Maurizio Pollini und Daniel Barenboim vor. Neben mit saß ein Mann, der, während Perahia Bach spielte, die Kurzbiographie von Perahia im Programm las, bei Schuhmann die Erläuterungen zu Chopin las, und als Perahia bei Chopin angelangt war, wieder in der Kurzbiographie las. Die Frau dieses eifrigen Lesers hatte bemerkenswert weißblonde Haare. Das Publikum sieht heuer nicht ganz so gefährlich aus wie beim Sokolov-Abend, als es schien, dass mindestens die Hälfte der Zuhörer aus schlechten Pianisten bestünde.

Ab und an höre ich die Konzertwiedergaben der Phillies im RBB. Es gibt einige Aha-Erlebnisse, die meisten sind positiv. Von Lang Lang machte seinerzeit nur der langsame Satz aus Mendelssohns erstem wunderschönen Klavierkonzert sehr großen Eindruck auf mich. Jetzt fand ich Lang Lang auch in den Ecksätzen unbestechlich, mit einem Niveau, von dem Andras Schiff nur träumen kann. Ozawas frische Bruckner-1. klang natürlich auch schon live hervorragend. Ein anderes Aha-Erlebnis: Christine Schäfer, die ich gerade erst in Mahlers Vierter live gehört hatte, singt im Radio die letzte Liedzeile „dass alles für Freuden, für Freuden erwacht“ mit einem unbeschreiblichem Gefühl fürs Zuendegehen. Und zwar so unbeschreiblich, dass ich die Farbe und Geste der Stimme immer noch so im Ohr habe, als hätte ich sie gerade vor fünf Sekunden gehört. Live habe ich das überhört. Andererseits klang das G in „St. Peter im Himmel“ live deutlich hintergründiger als beim Nachhören übers Radio. Rätsel über Rätsel. Weitere Aha-Erlebnisse: Simon Rattle machte nicht nur die Kopfsätze der Beethoven-5. grandios (muss September 2006 gewesen sein), sondern auch die Binnensätze, die ich Schnösel damals unbedeutend fand. Aber es kommt auch vor, dass Aufnahmen den Live-Eindruck bestätigen. Dudamel dirigierte Strawinsky flau (Violinkonzert) und Prokofjew mal „Mann, ditt war echt jut“, mal „Schwamm drüber, Gustavo“ (Fünfte). Andris Nelsons dirigierte Schostakowitsch großartig, aber Alban Berg solala.

Wo hört man den besten Tschaikowsky? Bei der Sechsten mit der Staatskapelle unter Barenboim. Yefim Bronfman, zuvor der Solist in Bartóks zweitem Klavierkonzert, saß während Tschaikowskys Sechster mit Anhang auf eigens herbei geschafften Stühlen auf dem Podium. Er trug einen zerknitterten grauen Anzug und gelben Pullunder.