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Alan Gilbert zählt zu den unspektakulären Taktschlägern. Kittel statt Fliege und Frack, eine alle einbindende Körpersprache, keine Marotten, keine Sprünge.

Vor den Philharmonikern dirigiert Gilbert ein Programm, dessen Ehrgeiz im Detail steckt. Eine europäische Erstaufführung, aber von einer isländischen Komponistin, ein sinfonisches Hauptwerk, doch immerhin Strauss‘ sperrigste Tondichtung. Dazwischen ein Solistenkonzert aus der Abteilung süßsauer.

Denn Lisa Batiashvili spielt Sergej Prokofjews Violinkonzert 2, das aber souverän, elegant, etwas unnahbar. Und leise. Die Philharmoniker sind heute nicht besonders laut und doch fädelt sich Batiashvili mit feinem Ton ins Tutti ein. Was in dem Konzert steckt, der blendend helle 1. Satz, der gläsern schöne 2., der ruppige 3, ist dezente, ausgezirkelte Musik, Neoklassizismus gewiss, doch eigener Prägung. Die Geigerin spendet dem filigrane und kluge Töne. Fein dosiert sind Dynamik, Affekt, Farbe. Violinspiel als Gratwanderung zwischen kühler Artistik und persönlicher Aussage.

berliner philharmoniker gilbert symphonie domestica

Dazu pflegen die Berliner Philharmoniker Tugenden wie breites Phrasieren und erfreulich unspektakuläres Agieren, spielen aber auch ungewohnt verwaschen – man verliert sich einmal im 1. Satz – und nur ein bisserl plüschig. Jansons hätte klarer dirigiert, Dudamel wärmer. Über Prokofjews Ästhetik der porzellanhaften Formen mit Spitzen kalkulierter Unkultiviertheit legt Gilbert einen Weichzeichner. Das arbeitet dem Klischee vom kühl austarierten russischen Klassizismus Prokofjew’scher Prägung entgegen. Und muss nicht falsch sein. Dieser Prokofjew ist nicht harsch, sondern lyrisch, sogar kammermusikalisch angehaucht. Eine gute Interpretation, die ihren besonderen Reiz daraus gewinnt, dass sie neue Perspektiven öffnet.

Leider keine Zugabe von Batiashvili.

Es ist schön, die Symphonia Domestica hin und wieder zu hören. Strauss komponiert, als könnte ihm nichts mehr widerfahren. Das intime Treiben der eigenen Familie in der Charlottenburger Knesebeckstraße zum Thema einer pompösen Tondichtung zu machen, wirkt in seiner Rücksichtslosigkeit modern. Die Domestica ist ein wilhelminischer Egoshooter und gewiss kein Werk der schweren Muse. Jeder Takt ist Szene, Deskription. Der symphonische Konflikt ist ein Ehekrach, der symphonische Höhepunkt ein Koitus. Ganz frei handhabt Gilbert Takt und Tempo nicht. Da Strauss die zahlreichen Themen mit der Gießkanne über alle Sätze verteilt, ist man als Zuhörer an keiner Stelle vor keinem Thema sicher. Hinter jedem Taktstrich lauern Papi, Franzl oder Gattin Pauline. Da muss man froh sein, dass Strauss nur einen Franzl und nicht fünf Franzls hatte. Die Philharmoniker spielen behaglich.

Gilbert nutzt beim Forte die volle Armspanne, hat eine kumpelhafte Gestik.

Endet der Abend mit der Schilderung des Strauss’schen Familienkosmos, so steht am Anfang Metacosmos von Anna Thorvaldsdottir, auch Anna Sigríður Þorvaldsdóttir, eine kleine, sehr schmale Person, die beim Applaus sehr nervös wirkt. Metacosmos ist vorzüglich geschrieben. Die Komponistin verortet diese Art Kosmos zwischen Düsterkeit und Schönheit. Edle Melancholie, zu der kosmisches Wummern in Form sich verschiebender Crescendo-Decrescendo-Wellen tritt, zeichnet das Werk aus. Mit dem Einsetzen des Schlagzeugs wird das Stück kurzzeitig banal. Das wäre nicht schlimm, trüge Metacosmos seinen melancholischen Nord-Sound nicht vor sich her wie ein Nordlicht.

Die Philharmoniker featuren Komponistinnen. Da könnte einem fast der Gedanke kommen, der nächste Chefdirigent, also der nach Petrenko, würde eine Chefdirigentin.

Bei weitem nicht ausverkauft. Bei Strauss etliche leere Plätze in A.


Weitere Kritik: Kulturradio (Clemens Goldberg)