Violetter Schnee, komponiert von Beat Furrer, als Uraufführung an der Staatsoper Berlin.

Fünf Menschen, eingeschneit in einer Kellerwohnung, verlieren allmählich den Bezug zur Realität. Oben herrscht dichtes Schneetreiben, vor einer trostlosen Mauer lagern im kalten Neonlicht einer Straßenlaterne Frierende. Dazu hämmert die Musik in aggressiven Klangblöcken die klirrende Kälte in den Gehörgang – oder flüstert trügerisch wie das sanfte Fallen von Schneeflocken.

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Fünf eingeschneite Gegenwartsmenschen, aus der Gegenwartsbahn geworfen von etwas Unbekanntem, Bedrohlichem, dieses Szenario wird in Furrers Schnee-Oper nach einem Libretto von Händl Klaus (Vorlage: Wladimir Sorokin) durchdekliniert.

Die Krux an diesem Abend ist, dass Furrers Gegenwartsmenschen nur Spielball der Partitur sind.

Die blonde Silvia (Anna Prohaska, hellschwebender Sopran) torkelt in Plastikzottelmantel und Pumps über die Bühne. Peter (Georg Nigl, hoher Bariton mit Suchtpotenzial) im Anzug, Typ Redakteur, hatte einen Unfall im Schnee. Dann ist da Natascha (Elsa Dreisig, ein Sopran, kühl-heiß wie guter schottischer Classic Malt) mit Nerdbrille, Heinrich-Böll-Käppi und Marlene-Dietrich-Hosenanzug, darstellerisch sehr präsent. Jan (Gyula Orendt, weich gerundeter Bariton) trägt edles Beige und knutscht kurz mit Natascha. Jacques (Otto Katzameier) wirkt in Schlabbermantel und Sloterdijk-Mähne immer etwas unbeteiligt und palavert über die dunkle Materie, schaut sonst aber ahnungsvoll in den Himmel.

Abgedriftete, rätselhafte, erschreckend runtergekühlte Menschen sind das. Weil sie die emotionale Energie von Salatgurken haben. Ihr Singen ist Stammeln, gesungen werden Quintolen im 7/16-Takt, mit diffizilen 1/6-, 1/4- und 3/4-Tonabweichungen.

Peter äußerst sich in Szene 30: „Ich bin verloren… liegen… schwerfällig… schlagen… mein Körper… wich mein Blut“.

Dann ist da noch Tanja (Martina Gedeck, Sprechrolle, in engelhaftem Weiß), mehr Phantasmagorie als Mensch, aber die einzige Verlässliche, ja Handgreifliche. Diese Tanja steht im Museum und beschreibt stockend und haargenau, was sie auf Pieter Bruegels Die Jäger im Schnee sieht, das vor ihr hängt. Eigentlich geht die Oper damit los.

Fortan stochert die Handlung im Schneenebel, wird aber auch faszinierend mehrdimensional. Wenn Dramen stattfinden, dann auf Nebenschauplätzen. Jan versucht, Silvia den Flachmann abluchsen, so etwas in der Art. Vollkommen nebulös ist, was am Schluss passiert. Wäre die Oper von Stephen Hawking, ich würde auf das Ende des Universums tippen.

Die Inszenierung von Claus Guth ist vom Visuellen her gedacht, ihre Stärke hat die Aufführung in ihren zwingenden Bildern. Auf dem bühnenhohen Gazévorhang verschmelzen Schneegestöber und Detailaufnahmen aus Breughels Meisterwerk (beides Video). Gekonnt wird mit Unschärfe gespielt. Fein vermischen sich die Realitäten. Virtuos spielt die Lichtregie mit nadelfeinen Variationen kalten Lichts, das leuchtet mal klar, mal rauchig, aber immer aufregend (Olaf Freese). Das Bühnenbild (Étienne Pluss) selbst teilt sich in unten und oben, einmal in die weit in den Bühnenvordergrund geholte (und so die Sänger einengende) neubourgeoise Wohnung inklusive darüber sich erhebendem, klaustrophobischem Treppenhaus unten und dann in die trostlos schneeumtoste Straße oben.

Die Oper ist langweiliges Endzeit-Kino ohne Herz.

Schuld daran ist das hochnäsige, hanebüchene Libretto.

Aber auch die gut gemachte Musik mit ihren blockhaft statischen, wuselig dissonanten Tuttis und den stachlig flüsterleisen Glissandi macht die Personen nicht wirklich lebendig. Sie stülpt sich wie eine Kältewalze über die Individuen. Eine Spielanweisung für das Streichertutti lautet gläsern / kalt. War Furrer die unbarmherzige Gegenwartsdiagnose wichtiger als seine frierenden Operngeschöpfe? Über dem Ganzen schwebt ein Hauch plakativer Komponierroutine, auch wenn der Gegensatz aus Schärfe im Detail und Unschärfe im Ganzen höchst reizvoll ist.

Das Endbild. Das 24-stimmige Vocalconsort Berlin intoniert lateinische Lukrez-Verse. Furrer sagt: „Verlust der Identität, der Selbstwahrnehmung und Auflösung aller Gewissheiten“ (in einem Interview mit Julia Spinola).

Schließlich leuchtet eine halluzinierend blendende Sonne am düsteren Winterhimmel. Dann geht das Licht aus.

Matthias Pintscher dirigiert.

Fazit: Musik interessant, Handlung öde, Oper missglückt.

Trotzdem: Ansehen lohnt sich.

Foto: Monika Rittershaus


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