Das Konzert war ebenso kurz wie der diesjährige Berliner Winter, und Frau Netrebko ebensowenig krank wie beim letzten Konzert mit Barenboim.
Daniel Barenboim dirigiert einen hübschen Till Eulenspiegel, in dem die Holzbläser durch Charme und Flatterhaftigkeit auffielen, einen schmissigen Ungarischen Marsch aus Berlioz‘ Faust und eine grimmige Ouvertüre zu Verdis I Vespri Siciliani. Barenboim dirigiert in bester Laune.
Das Publikum lässt sich den Till Eulenspiegel als kurzweilige Verkürzung der Wartezeit auf die Sängerin des Abends gefallen. „Nichts für zu Hause, aber hier höre ich mir das gerne an“, sagt meine Begleitung zum Eulenspiegel. Dann kommt Anna Netrebko. Die Strauss-Lieder (Wiegenlied, Morgen!, Cäcilie) zeigen die erstaunliche Fülle der Stimme Netrebkos mit prachtvoll leuchtender Mittellage und scheinbar etwas härter gewordener, nun mit leichtem stählernem Glanz hinterlegter Höhenlage. Qual der Wahl: Man weiß nicht, welcher man den Vorzug geben soll.
Fast vollständig exekutiert
Die leuchtenden Pianissimi Netrebkos besitzen eine enorme Delikatesse der Tonproduktion, doch nicht immer eine solche des Ausdrucks, oder zumindest jenes Ausdrucks, wie man ihn in Deutschland zu fordern gewohnt ist. Strauss‘ sich verströmende Liedkunst hätte einer sorgfältigeren Artikulation des Worts bedurft. Dass Anna Netrebko bei Strauss lieber die Vokale singt als die Konsonanten, kann man ihr nicht verdenken. Das führte aber etwa dazu, dass Anna Netrebko das „Sch“ in „des Glückes stummes Schweigen“ sozusagen fast vollständig exekutiert. Man kann es drehen und wenden wie man will, aber auf Deutsch ist „eigen“ nicht das selbe wie „Schweigen“. Anna Netrebkos Sopran erklimmt vor der Pause ein kurz berührtes G im „Morgen!“ und ein Gis im „Wiegenlied“, und zuletzt ein leuchtendes H in „Cäcilie“ – und zwar mit eben der Lockerheit, mit der Reinhold Messner in seiner Glanzzeit einen 4000er vor dem Frühstück erklommen hätte. Strauss‘ Cäcilie gab’s an selber Stelle vor gut einer Woche schon von Jonas Kaufmann – nur emphatischer.
Sie winkt, sie lächelt
Anna Netrebko trägt zuerst dunkles Rot und nach der Pause gedämpfte Champagnerfarbe mit dezentem Glitzergürtel. Sie winkt, sie lächelt, sie zeigt sich, geführt von Barenboims Rechter, vor den Podiumplätzen der Philharmonie. Barenboim dirigiert auf dem heute Abend auffallend hohen Dirigierpodesterl wie ein nie erlöschender, heftig schnaufender Vulkan. Führt er Netrebko, zeigt er sich als galanter Begleiter alter Schule.
Doch zurück zu Frau Netrebkos Stimme. Die triumphale vokale Expansion, mit der Boitos „L’altra notte“ schließt, war in der zwingenden Klangfülle der Höhepunkt. Ein Fan, schätzungsweise aus Block D links, feuerte ein „Brava“ in kanonartiger Lautstärke ab, und das nur Hundertstelsekunden, nachdem Anna Netrebko ihre Tonemission beendet hatte. Kurz gesagt, „L’altra notte“ erntete stürmischen Beifall. Verids „Mercè, dilette amiche“ (aus I Vespri Siciliani) war bestechend im Klang. Doch fehlte heuer in der Philharmonie zwar nicht die Identifikation mit der armen Elena Verdis, wohl aber die letzte Freiheit des Rollenporträts.
Üppige Ausladung
Womit ich zu der Tatsache komme, dass ausdrucksvolle, erfüllte Piani nicht immer Anna Netrebkos Sache sind. Und erst hinterher fällt mir ein, dass mir Netrebkos Vibrato kein einziges Mal bewusst aufgefallen ist. Das ist in der Regel ein Gütezeichen allererster Ordnung, dies dürfte heute Abend jedoch auch für den fehlenden dramatischen Biss ihres Verdi verantwortlich sein. Nach wie vor scheint mit ihre zurückgenommene Expressivität ein kleines Manko zu sein. Einzigartig freilich bleiben in der Philharmonie der farbenreiche, satte Schmelzklang ihres Soprans, dessen unvergleichlich üppige Ausladung bei Aufschwüngen und dessen samtiges Gurren in der Mittellage.
Monströs
Die Zeiten, da Anna Netrebko als trällerndes Erotikum die Bühnen der Welt unsicher machte und sozusagen ganz nebenbei sich anschickte, die bekannteste Sopranistin der Welt zu werden, scheinen langsam aber sicher vorbei zu sein. Ihre Ausstrahlung tendiert je länger, je stärker zum Divenhaft-Mütterlichen. Mannomann, das huldreiche Lächeln, das hat schon was. Und dann noch die liebreiche Verbeugung – ts,ts,ts. Und diese Andeutung einer delikaten Üppigkeit… Kein Wunder, dass ein apart hergerichteter Herr einen monströsen Blumenstrauß überreicht. Mal ehrlich, in fünfzwanzig Jahren bin ich für so was auch fällig.
Netrebko singt 2 kürzere Zugaben: eine davon Ckagi, o tschom aus op. 57. Vier Zugaben wären schön gewesen.
Vor dem Konzert, während des Konzerts und nach dem Konzert fragte ich mich beständig, ob jetzt mehr Hamburger oder mehr Russen in der Philharmonie waren. Wissen Sie es? Diese Hamburger… Es ist eine Krux mit diesen Benefizkonzerten. Die Atmosphäre ist entweder zu animiert, oder zu wenig animierend. Beides war heute teilweise der Fall.
Review/Kritik: Netrebko ist einzigartig, wenn auch nicht vollkommen