Ist der Wettergott Wagnerianer? Schwer zu entscheiden. Das pralle Ostersonntagswetter hindert normalsterbliche Wagnerianer in Berlin jedenfalls nicht am Besuch der vorletzten Festtage-Vorstellung.
Nach der Prokofjew’schen Verlobung im Kloster am Vortag tue ich mir schwer mit dem „biederen Pomp“ (Thomas Mann) der Meistersinger. Doch die Sänger höre ich gerne.
Andrea Moses denkt Wagners Festoper von der Gegenwart aus. Hier bevölkern die Meistersinger als honorige Mittelständler-Chefs eine holzgetäfelte Führungsetage, umwuselt von schmucken Büro-Lehrbuben. Das Prügelprogrom der Johannisnacht kommt direkt aus einer durcheinandergewürfelten deutschen Gesamtgesellschaft, ebenso die lärmende Festwiesenfreude vor nagelneuer Berliner Schlosskulisse, die nach Sachsens Ansprache strahlend Rasengrün weicht. Das sieht so steril aus, dass man sich fast nach der unwirtlich urbanen Neon-Nacht des 2. Aktes sehnt. Der 2. Akt ist ansonsten eine recht fade Angelegenheit, obwohl Sachs beim Fliedermonolog an der hauseigenen Hanfplantage schnuppert. Einen einzigen Lacher gab’s dafür am Sonntag. Akt 1 und Akt 3 funktionieren hingegen gut in gut bespielten Räumen (Bühne Jan Pappelbaum).
Hans Sachs (Wolfgang Koch) ist als erfolgreicher Schuhunternehmer inszeniert, der ein Alt-68er geblieben ist und dennoch um Tradition und Altvordere weiß, wertkonservativ gesinnt und doch offenen Herzens, eine Art Winfried Kretschmann auf der Opernbühne. Am allesentscheidenden Morgen steht Sachs im Schlabberhemd am Lesepult seiner 20.000-Euro-Bibliothek (nur die Regale) und beherrscht die Bühne durch Lässigkeit. Koch ist ein suggestiver Darsteller von hohen Gnaden und er setzt dem Sachs eine Seele ein, generös menschelnd und jovial singend, in der Mittellage ausnehmend schön, in der Höhe nicht so brachial-schallend wie Michael Volle, doch beherrscht Koch auch die transparente Halbstimme in der Höhe. Koch singt mit der Kraft der Schönheit, mit einer sozusagen modernen Wagnerstimme, in der sich dezentes Metall und weiche Umhüllung schmeichelnd vereinen.
Auch Klaus Florian Vogt singt einen aufregend anderen Stolzing. Mit konsequent lyrischem Vortrag und selten klarer Diktion. Das Konzept von Vogts Ton: hell und leicht, dazu ein Schuss Naivität. Was für ein Genuss! Das Preislied ist purer Wohltat-Wagner zwischen Parnass und Paradies. Ausdrucksträger ist stets der fast kammermusikalische Stimmklang, das gilt selbst in der von einer attraktiven Leichtmetalllegierung getragenen Höhe. Was mich bei Vogt immer noch stört, ist die Phrasierung ohne Spannung. Doch ich halte Vogts Walther von Stolzing für den derzeit besten in Wagners weiten Landen. Dass Vogt sehr kurzfristig einspringt, ist Grund zur Freude. Doch der Tenor singt tags zuvor die gleiche Rolle in Salzburg unter Thielemann. Ist dies nicht unverantwortlich gegen sich selbst, auch wenn Vogt sich im 1. Akt flink frei singt?
Die Eva Pogner ist bei Regisseurin Moses nicht das Ev’chen von züchtig deutscher Gefühlstiefe, sondern eine patente junge Dame in schrecklichen Liebesnöten, die sich erst in allerletzter Sekunde für den Junker entscheidet. Julia Kleiter spielt die nicht ganz stressresistente, daher Zigarette qualmende Eva bravurös und nervös gestikulierend. Sie brilliert im Quintett, singt dort rein und leuchtend, hat für meinen Geschmack in den berückend hell gesungenen rezitativischen Passagen wenig Intimität oder Ausdruck in der Stimme. Auch Martin Gantner (Beckmesser), für Kränzle eingesprungen, verkörpert seine Rolle hell und dazu auch noch markant und ohne charaktertenorales Gedöns. Beckmesser – einmal nicht als Außenseiter-Karikatur, sondern als gestandener Mann, der allerdings als jämmerlich Versagender im Wettsingen erstaunlich wenig Mitleid auf sich zieht.
Neben Vogt und Gantner ist der Pogner von Matti Salminen eine weitere kurzfristige Umbesetzung. Salminen, unvergessen als Gurnemanz und Marke an beiden Berliner Häusern, singt einen äußerst problematischen Auftritt im 1. Akt (für den er zwei schallende Buhs beim Schlussapplaus bekommt) und einen respektabel kraftvollen im 3. Akt. Eine helle Freude ist der David des Südafrikaners Siyabonga Maqungo mit deutlicher Aussprache, kunstfertiger Belcanto-Kultur, gutem Deutsch und Stimmreserven. Dass ein Afrikaner in den ach so deutschen Meistersingern singt und reüssiert, fügt der Vorstellung eine hochinteressante Note hinzu, die das Publikum beim Schlussapplaus auch zu honorieren scheint. Die hochgewachsene Lene von Katharina Kammerloher gerät drahtig und gerade heraus. Ein bleibender Publikumserfolg ist die Riege der altgedienten Meistersinger mit Franz Mazura (Schwarz), Graham Clark (Vogelsang), Siegfried Jerusalem (Zorn), Reiner Goldberg (Eisslinger) und Olaf Bär (Foltz). Der Nachtigall von Adam Kutny, der Kothner von Jürgen Linn, der Moser von Florian Hoffmann und der Ortel von Arttu Kataja komplettieren die Meisterriege. Als Nachtwächter versieht Erik Rosenius seinen Dienst.
Wie gesagt, mir fehlte nach der musikalisch fulminanten Prokofjew-Premiere das Ohr für die Meistersingermusik. Es wird anfangs auch schlampiger musiziert. Freilich hält Barenboim das Tempo zu Beginn enorm hoch. Zur Staatskapelle und Daniel Barenboim deshalb nach der Ostersonntagsvorstellung mehr.
Die Meistersinger-Premiere bei den Bayreuther Festspielen 2017.
Der wilde, assoziative Berliner Regiestil schwappt von Zeit zu Zeit als unvorhersehbare Flutwelle nach Bayreuth. Erst Castorf mit dem Ring, jetzt Kosky mit den Meistersingern.
Festtage 2008 Meistersinger Daniel Barenboim Harry Kupfer René Pape Dorothea Röschmann James Morris Katharina Kammerloher Roman Trekel Paul O’Neill Burkhard Fritz Hanno Müller-Brachmann Florian Hoffmann
Hanno Müller-Brachmann und René Pape beim Pläuschchen // Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de
Meistersinger Mittwoch, 19. 3. 2008. Die zweite Aufführung innerhalb der Festtage 2008 war nur halbwegs voll, das Parkett erst im dritten Akt gefüllt. Berlin ist eben keine Opernstadt wie München oder Stuttgart (wie toll waren die Meistersinger von Neuenfels). James Morris (Sachs) hatte einen besseren Abend. Morris‘ Bass parliert frisch von der Leber, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, würde Sachs hier wohl sagen – lässt sich auf der anderen Seite jedoch von der gestisch alles wagenden Staatskapelle wie’s scheint nicht aus der Ruhe bringen. Burkhard Fritz als Stolzing: konzentriertes und leicht ansprechendes Piano, in Gesang verwandelte Sprache, im Spiel auf der Bühne etwas stereotyp. Das Blech zerlegt die Posaunen- und Hörnerpracht der Partitur in seine Einzelteile und setzt diese mit wahrem Erfindermut wieder zusammen, die Oboen parlieren, und auch die Klarinetten reden unverstellt. Die Sprachfähigkeit der Staatskapelle unter Barenboim ist ungebrochen. Was bleibt unvergessen? Der Absturz der Streicher vor dem Tanz auf der Festwiese, die saugende Schlagkraft des Orchesters im ff des Hauptthemas, Triebkraft und Singen der Streicher, die deutlich abgesetzten dynamischen Stufen in der Aufwärtsskala des Hauptthemas im ff. Dorothea Röschmann („Selig wie die Sonne…“) macht glücklich. Hanno Müller-Brachmann ist umwerfend, eine seiner besten Porträts. Florian Hoffmann ist ein schmaler, vifer David.
Festtage 2008 Meistersinger Daniel Barenboim Harry Kupfer René Pape Dorothea Röschmann James Morris Katharina Kammerloher Roman Trekel Paul O’Neill Burkhard Fritz Hanno Müller-Brachmann Florian Hoffmann
Dorothea Röschmann: blaue Stunde in der Staatsoper // Foto: Monika Rittershaus / staatsoper-berlin.de
Barenboims Meistersinger am Sonntag, 16. 3. 2008. Festtage 2008. Zehn oder neun Jahre lang keine Meistersinger gehört – ich gestehe es. Man merkt, dass die Partitur kein diatonisches Zuckerschlecken ist, die Meistersinger fordern polyphonen Ohreneinsatz. Die Behäbigkeit der Musik ist glänzend-genial, die Behäbigkeit der Charaktere ist eine andere Sache. Doch Eva (Dorothea Röschmann) und Beckmesser, weniger der bieder-pompöse Hans Sachs, sind Genietaten Wagners. Man merkt es: Das von Wagner komisch Gedachte ist heutzutage tragisch, das von Wagner rein Intendierte komisch. Beckmesser (Roman Trekel) ist der geheime Held. Wie fühlt man mit dem tragischen „Beckmesser, keiner besser“ mit. Der dritte Akt ist der schönste und zusammenhängendste, den Wagner schrieb.