Das Musikfest läuft auf Hochtouren. Bei der Staatskapelle glänzt die alterslos bezaubernde Martha Argerich mit Schumann. Und der zeitgenössische Ableger des Luzerner Festivalorchesters präsentiert Saunders und Webern.
Unter den Linden (3G, mit Maske drinnen, aber ohne, wenn man sitzt) pfeift man auf die Festivaldramaturgie und bringt Teil 1 eines kleinen Schumannzyklus (Sinfonien, Klavier-, Cellokonzert). Da ist Martha Argerich. Gleicher Rock mit Zahlenmuster wie letztes Jahr. Auf dem Weg zum Flügel steigt sie über Aufnahmekabel, quetscht sich zwischen Flügel und Mikrofonständer hindurch. Der Gang etwas unsicher. Dann geht es los. Orchesterschlag, drei Takte abstürzende Akkorde, Thema Oboe, Thema Solistin: Argerich spielt wunderbar phrasierte acht Takte, inklusive einer kleinen, drängenden, scharfen Tempoanhebung, inklusive eines Aufblühens der Melodie, getragen von traumhaft sicheren Spannungsmodifikationen, inklusive eines unglaublich farbreichen Piano (das fast übertrieben sein kann, denkt man). Der Anschlag: Als würde Mona Lisa das Auge aufschlagen. Das hat Argerich trotz 80 Jahren noch im Köcher: vollgriffiges Temperament, die Bereitschaft zu träumerischem Chiaroscuro, Ausdruck. Kann es besser vielleicht als all die restlichen Pianisten der Welt.
Martha Argerich: heute Abend schnuppe
Die Attacke der Linken: scharfgeschnitten, kühn, fortreißend. Manchmal auch wie verschleiert, als wollte sie die Emphase weniger offensichtlich machen. Die Solo-Reprise des Themas: unendlich schattierungsfähig. Die Kadenz: 52 Takte Verhalten und Vorwärtsdrängen, die überleitenden Triller leuchten scharfkantig, mit die schönste Musik, die ich in Jahren gehört habe. Ist ja klar, dass Argerich mittels Rubato und Akzent expressiv phrasiert, wie es Jüngere sich nicht mehr erlauben können (weil sie auch den Ton dazu nicht haben). Wenn da manches breit, radikal uneben (die Rechte), heftig pedalisiert, verwaschen oder schlicht wackelig klingt (Durchführung, Oktaven der Rückkehr zum tempo primo), ist das heute Abend schnuppe. Barenboim ist nicht zimperlich mit der Lautstärke, Transparenz interessiert ihn nur, wenn Transparenz den Ausdruck steigert. Übrigens ist der Saal an den Flanken (sitze rechts Seite) heute ungnädig mit der Klarheit des Klangbildes.
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