Brahms-Schönberg-Programme liegen spätestens seit Rattles Zyklus von 2009 nahe. Rar ist die Kopplung zweier Variationenwerke, Schönbergs op. 31 und Brahms‘ 56er-Opus. Zusammen mit Beethovens Achter ergibt dies ein Konzert der Kürze und Knappheit.
Für Brahms‘ Haydnvariationen, dessen Thema ziemlich sicher nicht von Haydn stammt, bringen die Philharmoniker Kontrolle und Lyrismus ein, wobei das Gravitationszentrum das Hörner-Vivace sowie das souverän gegebene Grazioso („innig und zart beseeltes Siciliano… Bachisch im Charakter, Brahmsisch im Ton“, schreibt Walter Niemann 1920) scheinen.
Das Konzert war stellenweise langweilig, was zu einem großen Teil an Wagner und zu einem geringeren an Pfitzner lag.
Die Palestrinavorspiele, komponiert um 1915, Premiere 1917, hört man in Berlin erstaunlich oft, schon Nelsons und Janowski ließen sich von den kargen Linien und dem ausgesparten Klang faszinieren. Eben das macht den Ruhm dieser Musik aus, unweigerlich öffnet sich die ferne Zeit des Weltkriegs. Schön, im dornenreichen Vorspiel Nr. 3 huldigen die Philharmoniker in fabulöser Weise Pfitzners schwermütiger Entsagung, aber will man nicht dessen Ouvertüren (Käthchen, Christ-Elflein) oder seine Konzerte aufführen? Das klanglich wenig binnendifferenzierte und doch fabelhaft von innen bewegte Vorspiel 2 zeigt, wie Christian Thielemann eben nicht den analysierenden Spaltklang etwa eines François-Xavier Roth favorisiert.
Nicht die Entbehrungen, sondern die Wonnen der Resignation sind Thema der Parsifalvorspiele. Man soll sowas lieber in der Oper hören. Thielemanns Sinn fürs Auf- und Verblühen der Linien ist trotzdem sagenhaft, ebenso für Temporückungen (die werden durchaus nicht feinsinnig gestaltet, sondern im Gegenteil kraftvoll), ebenso für die Klangmischungen von Streichern und Blech. Nachgerade zauberhaft nehmen die Streicher das Glaubensmotiv zurück, während dasselbe Motiv kurz zuvor, in voller Bläserpracht des 19. Jahrhunderts intoniert, das klingelnde Handy des 21. nicht zudecken kann.
Besser gelingt das 1944 in New York uraufgeführte Klavierkonzert von Schönberg.
Unter Andris Nelsons spielen die Philharmoniker dieses viersätzige, in seiner ganzen Spätwerkschwierigkeit heikle Werk gelassen, souverän, ungezwungen. So hätte man das gerne immer.
Es gibt wenige Aufnahmen des Schönbergkonzerts. Sämtliche nach 1970 klingen dünn. Die spannenden, von vor 1970, stammen entweder von Glenn Gould oder von Eduard Steuermann.
Nelsons und Uchida waren heute zwar gefühlt nur halb so schnell, wie Steuermann damals war. Aber so kann der geliebte, ja verehrte 1940er-Schönberg eben auch klingen: feinfühlig spannungsvoll, geschmeidig, symphonisch ernst und vergnüglich farbreich. Mitsuko Uchida findet sich in die verzwickte Faktur, indem sie hier individuell versonnen Zwölftonlinien zieht, da expressiver Gestik frönt. Und mit den zwölftausend Schattierungen des Streicherklangs kommuniziert. Ein fabelhaft lässiger Schönberg wird da gespielt, herrlich unaufgeregt und gar nicht schnöde Klang-ausgedünnt.
Berliner Pult mit Brucknerpartitur
Vor rund zehn Jahren kombinierte Barenboim bei der Staatskapelle Vokales von Schönberg mit Bruckner, es sangen Katharina Kammerloher, Christine Schäfer, Thomas Quasthoff. Schönberg und Bruckner passen auch heute gut.
Bei der Siebten, die es zu oft zu hören gibt, entsteht unter Andris Nelsons gelassene Weitläufigkeit. Die freilich durch eine charakteristische Schwere von Klang und Duktus angereichert, aufgeladen, eingefärbt und erweitert wird. Der Lette hat nichts übrig für Phrasierungsfinessen (die bei Thielemann nerven können). Bei ihm sind die Musiker kenntnisreiche Sachwalter, keine hohen Klassikpriester. Dafür haben die Philharmoniker heute Zeit für souveränes Laufenlassen, gestatten sich das Entfalten großer Bögen, am eindrucksvollsten auch bei den Celli-Einsätzen von Thema 2 der Durchführung. Der Repriseneinsatz wirkt beiläufig, wie eine Modulation unter vielen – es passiert halt. Beinahe Understatement hört man auch aus dem verhaltenen dreifachen Forte heraus – das sind keine Zufälligkeiten, sondern bedeutende Merkmale eines stellenweise doch großen Brucknerabends.
Zwischen Igor und Strawinsky passt immer noch ein Violinkonzert. Oder ein Frühlingsopfer. Les Siècles aus Paris spielen in der Philharmonie Strawinskys burschikoses, kompliziertes Violinkonzert. Solistin ist Isabelle Faust. Schwierig zu hören ist dieses Konzert, weil es so verflixt antiaffektiv und gleichzeitig bestechend klug ist. Dann die Enttäuschung: Kopfsatz (Toccata) und Finale (Capriccio) schnurren ohne Überraschung in die Mikrofone. François-Xavier Roth fällt nicht viel ein – und Faust auch nicht. Mein Problem mit Les Siècles: Man hört, dass die Franzosen wissen, wie gut sie klingen. Aria I wird dahingegen von Isabelle Faust beherrscht. Noch mehr beherrscht durch Isabelle Faust wird nur Aria II – durch unaufdringlich intime dynamische Beleuchtung und durch ein heiser singendes Vibrato. Und durch einen Ton von vorbehaltloser Distinktion. Eine unendlich süffige, unendlich betörende Affektstudie. Zauberhaft. Ich höre das Konzert auf Deutschlandfunk.
Das Kammermusikfestival Intonations im Jüdischen Museum Berlin geht ins achte Jahr. Sechs Konzerte stehen auf dem Programm. Spielort ist der moderne, atmosphärisch starke Glashof Daniel Libeskinds. Angenehm multizentral kreisen die Programme um deutsche Lied-Linien von Schubert über Mendelssohn bis Reimann, um klassische Musikmoderne (Schönberg, Dallapiccola, Eisler),
Petrenko mit einem interessanten Abend in der Philharmonie Berlin. Für sein Berliner Konzert mischt der Chef in spe sperrigen Schönberg mit triumphierendem Tschaikowsky.
Liedrecital von Katharina Kammerloher im Apollosaal der Berliner Staatsoper.
Sängerisch intelligent angepackt und auf einem Spannungsbogen entfaltet erklingt jedes der zwölf Lieder Robert Schumanns aus dem Liederkreis nach Eichendorff op. 39. Da wird Mondnacht weitgespannt entwickelt
Ein hörenswertes, beziehungsreiches Programm der Staatskapelle Berlin.
Schönbergs Kammersinfonie Nr. 2 op. 38 zählt allmählich zu den gespielten, verbindlichen Werken, immerhin rund 80 Jahre nach Fertigstellung und Erstaufführung. Sei’s drum. Beethovens 9. brauchte kaum weniger lange. Wie diese hat Schönbergs op. 38 die Fülle der Einfälle und die schroffe Ausdrucksgewalt. Heras-Casado spielt das späte Werk als das jung gebliebene Hauptwerk, das sie ist. Anklänge an Werke anderer Komponisten wirken als magische Echos.
In Flötenstellen (Claudia Stein) hört man das Schimmern von Debussys Klarheit, im zweiten Satz Mahlers Siebte, im fantastischen Molto Adagio – fast schauerlich – Wagner (3. Parsifalvorspiel, in der Hornfanfare gar so etwas wie das Urbild eines Leitmotives aus dem Ring). Pablo Heras-Casado bietet das Werk in großer Form und lebhaft plastischer Wiedergabe, verdichtet im Klang und gestrafft in Dramaturgie und Tempo (dieses ist zügig, doch nie eilend).
80 Musiker und ein weißer Schopf: Simon Rattle und das Bad in der Menge
Weil die Berliner Philharmoniker durch Nordamerika touren, kommt Berlin zwei Tage hintereinander in den Genuss des vollständigen Tourprogramms. Boulez, Mahler, Neue Wiener Schule, Brahms. Wien, Frankreich, Deutschland. Ausdruck, Moderne, Struktur.
Es ist ein Konzertdoppel, das unwillkürlich nach Abschied schmeckt (alas!). Werde ich Brahms‘ 2., Mahlers 7. noch einmal unter Rattle hören?
Seit den Nullerjahren hört man Brahms‘ op. 25 öfters mit Schönberg als ohne Schönberg.
Iván Fischer ist ein feuriger und genauer Sachwalter des Mit-Schönberg. Sein angenehmer Dirigierstil verbindet Eleganz und Energie. Letztere tritt bisweilen zusammen mit einem herrischen Fuchteln des Dirigierstabs in Erscheinung. Fischer mag es durchaus kleinteilig, aber auch schön locker, wie man im 9/8-Intermezzo hört. Mein Lieblingssatz ist das Andante. Bei den Meistersinger-Anklängen des Mittelteils, die in der Ohne-Schönberg-Version von op. 25 längst nicht so deutlich rauskommen, weiß man nicht wohin mit seiner Bewunderung. Kurzes Hornsolo der unbekannten Dame am Solohorn.
Das mythische Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam. Es bekommt betont herzlichen Willkommensapplaus an einem Spätsommerabend, der von unberlinischer Freundlichkeit und Wärme ist. Oboist Lucas Macías Navarro ist nicht da. Wo sind die Niederländer? Ich schaue genauer hin und entdecke zwei Herren, deren Aussehen darauf schließen lässt, dass sie mit ziemlicher Sicherheit Niederländer sind. Einer ist der Pauker (Marinus Komst, schätze ich) und der andere einer der Pianisten in der Psalmensymphonie.
Der Berliner Winter ist nicht mehr. Stattdessen hört man die Philharmoniker mit einem Programm, das es gestattete, eine Prise Snobismus (Schönberg, Debussy) mit der gesunden Lust am Vergnügen (Dvořák, Elgar) zu verbinden. Ideal wäre gewesen, noch eine Siebte von Beethoven attacca an Elgars Variationen anzuschließen, aber was will man machen? Es war ein Abend ohne pompöse Reprisen und uferlose Sonatenhauptsätze, und wenn es welche gab, haben die Komponisten sie so gut versteckt, dass man sie nicht bemerkte.
Es gab Überraschungen. Debussys zweihufiges Prélude war gar nicht das beste Stück des Abends, Dvořáks Spinnrad war schöner als gedacht, und auf den jugendlichen Rippen von Elgars Enigma-Variationen saß kein Gramm Wagner-Fett – für ein großes Orchesterwerk, dessen Uraufführungsjahr 1899 heißt, erstaunlich und ein unbedingtes Qualitätsmerkmal.
Er kann’s halt. Barenboim in Aktion // Foto: Monika Rittershaus / Quelle: staatsoper-berlin.de
Staatskapelle Berlin – Daniel Barenboim: Bruckner Sinfonie Nr. 8 Schönberg Überlebender aus Warschau
Kritik Daniel Barenboim. Er dirigierte Bruckners 8. Sinfonie. Der Beginn ist wie immer, wenn Barenboim die Staatskapelle Berlin dirigiert, etwas unkoordiniert und zentrifugal. Das Tempo ist gleitend und sehr beweglich. Erst der Durchbruch zur Coda ist bei Barenboim allerhöchstes Niveau, sozusagen schwerer sinfonischer, dynamischer Sturm. Der Eindruck ist, dass Barenboim das Allegro moderato im Stil einer Symphonischen Etüde nimmt, etwas improvisatorisch angehaucht sozusagen und sehr emphatisch. Das Des-Dur-Adagio gelang Barenboim überwältigend, die Massen bändigend und befreiend, stellenweise tränentreibend, vor allem wegen des drängend bewegten Blechs, der instinktiven Gestik der bis ins Äußerste lebhaften Holzbläsersoli, wegen des die Bewegungen der Motivstrukturen weitertragenden Atems der Streicher. Das Anschwellen und Abschwellen, der pure Prozess dieser Musik, das Auf- und Absteigen der Figurationen, die Kraft zur Vereinheitlichung über Phrasen und Abschnitte hinweg, die äußerste Konzentration ergaben die Form des Satzes. Wie öfter bei außerordentlichen Konzerten ist die Staatskapelle unter Barenboim von subtilster Sprachfähigkeit. Es gibt wirkungsvolle Generalpausen, die das Vorangegangene abbilden und den Raum für das Folgende schaffen. An reiner Musikalität, an lebhaftem musikalischem Instinkt ist Barenboim als Dirigent womöglich unübertroffen. Auch das Finale war eindrucksvoll. Heftiger Paukenwirbel unter dem ganzen Körpereinsatz des Paukisten, der zum Schlussakkord hinleitet. Barenboim dirigiert, als spiele er mit 40 Fingern Klavier. Die Souveränität Barenboims in der Kunst des rhapsodischen, kunstlosen Phrasierens ist bis in Details der Artikulation bei Solostellen präsent. Vor der Pause Schönbergs Überlebender aus Warschau, gesungen und gesprochen von Hanno Müller-Brachmann.
Berliner Philharmoniker – Simon Rattle: MAGDALENA KOZENA KATE ROYAL RUNDFUNKCHOR BERLIN Schönberg Überlebender aus Warschau Mahler Sinfonie Nr. 2
Verglichen mit der Zweiten Sinfonie von Mahler ist Strauss‘ Sinfonia Domestica ein schlankes Beserl. Meine Affinität zur zweiten Sinfonie ist gering. Im dritten Satz klingt es hier und da nach Grieg, zwischendurch nach Bruckner. Die Posaunen im letzten Satz klingen nach Parsifal, sind bei Wagner aber zehnmal besser gesetzt. Einige Harmoniewechsel haben etwas Ungeschicktes. Es sind definitiv etwas zu viel Fanfarenmotive in der Zweiten. Der Chor hat was vom Pilgerchor aus Tannhäuser. Aber es ist trotz allem große Musik. Aber es gibt in Mahlers Erster auch Stellen, da versucht man herauszufinden, ob das nun Angela Merkel in der ersten Reihe ist oder nicht. Mahlers Erste hörend, fange ich an zu bedauern, dass Brahms, perfektionistischer Hanseat, der er war, es nicht über sich brachte, eine mitreißende, schwungvolle, vor Unerfahrenheit strotzende Jugendsinfonie zu schreiben, etwa im Stile seines Opus 8 – bis er 35 war, hätte das wohl noch geklappt. Stattdessen wartet Brahms mit der Ersten, bis er über sinfonische Gediegenheit verfügt.
Zu Beginn spielen sie der Überlebende aus Warschau, quasi als nullten Satz der Mahlersinfonie.