Das livegestreamte Philharmonikerkonzert am Samstagabend war hörenswert. Barenboim springt für Mikko Frank ein, und Yefim Bronfman spielt Brahms, 1. Klavierkonzert. Beim ersten Hören spielt Bronfman fesselnd, konzentriert, immer lebendig.
Die Triller des Themas donnert Bronfman nicht in schneidendem Gleichmaß, stattdessen will er jeden Ton einzeln hörbar machen. Beim 2. Thema spielt die linke Hand die Figurationen als Formungen von wunderbar eigenem Gewicht. Es ist ein wirklich eindrucksvolles Konzert von Bronfman, der gebürtig aus Taschkent stammt, Israeli und US-Amerikaner ist („this sturdy little barrel of an unshaven Russian Jew“, schreibt Philip Roth in Der menschliche Makel). Bronfman spielt kraftvoll, der Ton ist breiter als bei Trifonow, der Musizierfluss überlegener und gelassener.
Irgendwie fühlt sich die ganze Streaming-Chose an, als hätte es sie so schon immer gegeben. Lang, lang ist es her, da man Schulter an Schulter in Block G saß und Pandemie ein Wort aus der älteren Geschichte war. Andererseits, ertappt man sich nicht dabei, klammheimlich ganz froh zu sein, nicht im pickepackevollen Konzertsaal zu sitzen? Schwer zu sagen.
Bei den Philharmonikern goutiert man weiterhin Riesenwerke. Am Kopfhörer steige ich bei Bruckners 9. (mit Mehta, immerhin einem der aufregendsten Brucknerdirigenten) beim 2. Thema aus. Die Neunte ist mir zur Zeit zu viel Andacht, zu viel Jenseits. Auch Messiaens pathetisches Toten-Epos Et exspecto resurrectionem mortuorum – keine Minute reingehört – fungiert da als astreiner Stimmungskiller. Aber da mag jeder Hörer anders ticken.
Neues gibt es beim RSB. Da startet am Sonntag eine Aufführungsserie, sechsteilig, Strawinsky gewidmet, vollständig gesendet via Radiokonzert. внимание, Achtung!, hier spricht Strawinsky, und der spricht die Sprache der Reduktion. Zumindest im ersten Konzert. Selten bis Nie-Gehörtes des übergroßen Russen erklingt, gleich zu Beginn die Acht instrumentalen Miniaturen für fünfzehn Spieler (1963), bei denen ich das Gefühl habe, ich höre Musik aus dem Reinraum, so ostentativ antiromantisch tönt das. Und, o Wunder, gerade dadurch rührt sie. In die gleiche Kategorie hüftschmal proportionierter Meisterwerke gehört der quirlige Pas de deux: Blauvogel aus Tschaikowskys Dornröschen. Das ist großartig indirekte Musik von karger Buntheit. Teilweise ein Upcycling-Projekt von Film-Ideen für Hollywood stellt die bezaubernde Ode (1943) dar, bei der das RSB exemplarisch zeigt, wie sich distanzierter Spätstil unmittelbar in Gefühl transformieren lässt.
Bitter, aber wahr: Corona macht’s möglich, nämlich derart aufregende Programme.
Dann ist der allerbeste Teil des Abends aber auch schon vorbei. Orpheus (1947) ist Ballettmusik in der Art des Apollon. Die klingt ähnlich dunstfrei, aber nicht so phantastisch konzentriert wie die zuvor gehörten Stücke. Das Puritanisch-Säuerliche, das Antiken-Werken der Neoklassizisten gerne mal anhaftet, hört man auch bei Orpheus. Abschließend Juri Faliks Elegische Musik, deren Hauptreiz die vier imposanten Posaunen ausmachen. Schade, dass der Rest nicht mehr bietet als x-beliebigen, Streicher-umwobenen Trauerflor à la Schostakowitsch. Gespielt wird live aus dem Großen Sendesaal des Rundfunkhauses.
Kein Licht am Ende des Corona-Tunnels. Das deutschlandweit beachtete Senats-Pilotprojekt wurde ebenso fix wieder abgebrochen, wie es auf die Beine gestellt wurde. Alles bleibt beim Alten. Deutschland steckt im Dauer-Lockdown fest, und so liefern Orchester und Ensembles frischproduzierte Musik weiter per Livestream, Radiokonzert, Zoom-Meeting – oder erfinden neue Formate wie das RSB, das im März digital durch „Kinderzimmer, Klassenzimmer, Wohnzimmer“ tourte.
Corona ist ein tragischer Mist, aber alles ist besser als die Tristesse von Stillstand und Nichtstun. Und so klingt Corona-Berlin im April.
An der Staatsoper will man’s wissen. Es läuft die schon dritte Streaming-Premiere der Saison. Nach Lohengrin und Jenůfa wird jetzt Figaro neuinszeniert, gestreamt (auf Medici TV) und gesendet (RBB). Figaro? Aber den gab’s doch schon. Stimmt. Flimms beliebter Sommerfrischen-Figaro von 2015, damals mit Röschmann, D’Arcangelo, Prohaska, Crebassa, von Dudamel tiefenentspannt und leuchtend dirigiert, hielt nur fünf schlappe Saisons. Sei’s drum, nun präsentiert man Unter den Linden Mozarts Le Nozze di Figaro, die Oper der Täuschungen und Intrigen, neu durchdacht und bebildert von dem Franzosen Vincent Huguet, dessen Wiener Frau ohne Schatten unlängst durchaus zwiespältig gesehen und gehört wurde.
Flimm, damals noch in Intendants-Würden, versetzte das Italienische Singspiel in vier Aufzügen in die 1910er bis 20er samt Leinenanzug und Knickerbocker. Jetzt beamt Huguet Mozarts Buffa-Personal gleich in die 80er. Huguets Figaro-Welt ist bunt, schrill, extravagant, italienisch-luxuriös, Designer-Fummel inklusive. Jeder Akt ist ein Fashion-Feuerwerk.